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Interviews zum Thema "Globales Bewusstsein"

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Globalisierung der Gerechtigkeit
Interview mit Reto Müller, Pfarrer in Zürich, vom 31.1.02. Interviewer: Werner Binder
hinauf

Zuerst danke ich dir, dass du bereit bist für ein Interview über die gegenwärtige Zeit und die damit verbundene zukunftsgerichtete Frage, wo diese hinführen könnte. Ich möchte bei deiner Alltags-Wirklichkeit als Priester in einer Stadt-Kirch-Gemeinde anknüpfen: Wenn du die Leute anhörst, die du als Seelsorger betreust, in dein Team hineinhorchst, aber auch in der Wahrnehmung der weiteren Mit-Welt: Was kommt dir als Strömung entgegen, als Trend? Was beschäftigt die Menschen in der Tiefe?

Reto: Es ist zwar ein Schlagwort, aber es kommt mir in erster Linie ein neuer Fundamentalismus entgegen. Dahinter verbirgt sich natürlich eine grosse Unsicherheit. Im katholischen Binnenraum gibt es viele Leute, die - was mir befremdlich ist - Sicherheiten suchen und diese "durch alle Böden hindurch" verteidigen. Wie unglaublich verunsichert sie sind, erkenne ich an der Art, wie sie sich an Äusserlichem und Überlebtem festklammern und es verteidigen müssen.

Heute ist es umgekehrt wie früher. Mit 20 war ich ein Linker, der gegen meinen damals 50-jährigen Vater und meine Lehrer kämpfte. Jetzt kommen die 20-jährigen und bekämpfen mich von rechts und zwar von ganz traditionellen, sehr konservativen, sowohl politisch wie religiös-theologischen Positionen aus, und ich fühle mich immer noch links. Das ist natürlich ein dummes Schlagwort: ich fühle mich in Bewegung, und sie sind so statisch und wollen zurück zu statischen Welten, in den sicheren Hafen, was für mich aber den Tod bedeutet. Wenn man sich nicht auf das offene Wasser hinauswagt, dann kommt man nirgendwo hin. Das Wasser ist das Lebenselement, im Hafen ist es rasch einmal brackig und öl-verschmutzt.

Das ist im inner-kirchlichen Raum eine Haupterfahrung. Bei den Menschen, die von aussen kommen und nicht kirchlich sozialisiert wurden, erschrecke ich immer wieder darüber, wie viele krank sind, was ich nicht wertend sage. Es sind sehr ängstliche, verdrehte und verschrobene Leute, die irgendeine fixe Idee haben. Ihr Verhalten ist vielleicht verwandt mit dem Fundamentalismus. Es ist manchmal so absurd, dass auf den ersten Blick erkennbar ist: die brauchen eine Therapie, eine psychiatrische, psychologische Behandlung. Sie sind natürlich gar nicht bereit und gar nicht einsichtig, manchmal kommt eine messianische Art zum Vorschein, darum haben sie nicht das Gefühl, "neben den Schuhen" zu stehen.

Ich stelle jedoch auch ein grosses, spirituelles Interesse bei vielen Leuten fest, die nicht innerhalb der Kirche angesiedelt sind. Das ist ja schön und für mich sehr verständlich, da die Kirche nicht transparent macht, dass sie dieses spirituelle Interesse im Prinzip beantworten könnte. Sie soll nicht einfache Antworten geben, doch sie könnte einen Raum anbieten, in dem man finden könnte. Viele Leute haben nicht die Einsicht und gar keine Ahnung, dass man auch in der Kirche finden könnte.
Man spürt eine spirituelle Sehnsucht, doch weiss man nicht, wohin man gehen kann, um sie festzumachen und zu erfüllen. Es ist die Verunsicherung in einem riesigen spirituellen Selbstbedienungsladen mit vielen zweifelhaften Angeboten.

Bitte sage etwas über tiefliegende Sehnsüchte, die dir begegnen, wenn du zum Beispiel die Beichte abnimmst oder Gespräche führst. Welche, hinter den Ängsten verborgene Sehnsüchte erkennst du?

Reto: So etwas Altmodisches wie Heimat: Vertrauen, Sicherheit.
Leute suchen irgendwo, an verschiedenen Orten und in Ideen-Welten, um ein kohärentes Weltbild zu haben. Es ist alles unsicher, hinterfragt, von allem ist auch das Gegenteil möglich. Viele wissen gar nicht mehr, wo sie wirklich zu Hause sind.

Werner: Das, was du vorher ausgeführt hast über deine Erfahrung in deiner Umgebung, nämlich jenes ängstliche Festhalten an Sicherheiten: erkennst und erlebst du es auch weltweit?

Reto: Wenn ich sehe, was jetzt von Amerika aus geschieht, diese Panik vor Terrorismus, dieses Schema, das alles in Terroristen und Nicht-Terroristen aufteilt, wird, werde ich nachdenklich. Die Amerikaner sind ja grössere Terroristen als viele Andere, politisch, kulturell und sozial ... Oder die Mechanismen und Mentalität in der Wirtschaft.... Es findet eine Globalisierung des Kapitals statt, freie Kapitalflüsse weltweit, wo du nach Belieben abzocken kannst, die Menschen aber dürfen sich nicht frei bewegen. Was man für das Kapital fordert und dafür alle Gesetze zurechtbiegt, verbietet und verunmöglicht man für Menschen. Was für das internationale Management gilt, nämlich der freie Austausch, gilt für die "Papierlosen" (die "Sans-papier"), die Vertriebenen und Asylbewerber nicht.
Das ist absurd und unmenschlich und ungerecht.

Werner: Wie verstehst du die Bedeutung des "Priesterseins"? Ich meine damit weniger die äusseren Funktionen, als vielmehr die Aufgabe von einem inneren Standpunkt aus betrachtet. Was würde aus den Augen von Christus gesehen, Priestersein heute meinen?

Reto: Jeder Mensch ist zum Priestersein berufen - die Frauen sowieso auch - nicht nur die katholischen Priester. "Priestersein" heisst für mich: Vermittler zu sein zu einer Wirklichkeit, die hinter dem Sichtbaren steht, sowohl für die tieferen Bewegungen im Universum transparent zu sein, wie auch für die tieferen Bewegungen im Menschen, was als Seele bezeichnet wird.

Es genügt nicht - wer hat das gesagt, Kierkegaard oder ein anderer? : "Der Mensch kann nicht von Kühlschränken und Bilanzen leben".
Es gibt mehr als das, was sich rasch erschöpft im "Run" auf die materiellen Güter. - Ich bin gar kein Verächter vom Materiellen, aber Materielles ist ein Mittel, etwas Vergängliches.

Das Vermitteln übrigens ist nicht eines nur von dieser Welt in die jenseitige, verborgene (sie ist gar nicht so jenseitig, sie ist auch diesseitig), sondern ist auch ein Vermitteln zwischen Menschen. Das ist auch eine priesterliche Aufgabe: Solidarität zu schaffen in dieser ent-solidarisierten Gesellschaft.
Es ist der Versuch, eine Globalisierung auch im Menschlichen, in der Sehnsucht, in Fragen von Gerechtigkeit und im Spirituellen zu erreichen. Das ist die Globalisierung, die wir eigentlich brauchen. Und sie scheint mir die Aufgabe eines Priesters, einer Priesterin zu sein: das Vernetzen. Nicht nur in der Tele-Kommunikation und im Banking, sondern vor allem im Anliegen von Gerechtigkeit, von Sinn, im Anliegen von Transzendenz.

Werner: Eine Frage, die mich stets beschäftigt: Wie und wodurch wirkt Christus-Bewusstsein?

Reto: Frage etwas Einfacheres. - Gemeinsames Gelächter
Wenn ich das wüsste! Es wirkt jedenfalls viel klarer, viel besser und durchschlagender, als ich es je merke. Es wirkt weit ausserhalb meiner Erkenntnis, weit ausserhalb meiner Wahrnehmung, auch weit ausserhalb dessen, was das Christliche, die Kirche, das Christentum als verfasste Religion überhaupt ahnt und meint. Christus ist in allem, was dem Menschlichen dient, was menschlich ist. Die Inkarnation von Christus ist ein sehr wesentliches Kriterium. Es gibt nichts Christliches, das nicht auch menschlich wäre. Darum ist alles, was Gerechtigkeit fördert, die Menschenrechte fördert, etwas Christliches.
Also: Christus-Bewusstsein wirkt bei den Menschen, die das wahrnehmen und fördern und versuchen, es miteinander zu realisieren. Ich denke, es wirkt schon in der Sehnsucht, nicht nur im Vollendeten, also bei allen Menschen, die von und aus ihrer Sehnsucht leben können und nicht daran sterben - und eigentlich auch bei denen, die daran sterben. - Das Leiden ist aus der Christus-Wirklichkeit auszuklammern. Das ist ein Vorwurf oder eine Anfrage an weite Teile des Esoterik-Marktes, der das Leiden eigentlich ausblendet.
Es geht nicht einfach. Von Christus zu verstehen ist, dass im Leiden ein Trost, eine Kraft und eine Verheissung stecken, dass das Leiden ein Durchgang ist, nicht das letzte Wort; aber es ist aus unerforschlichem Ratschluss nötig. Je älter ich werde, desto einsichtiger wird mir dies auch und desto mehr sehe ich, höre ich dies bei anderen Menschen und bei mir selber, dass das Leiden der Preis und der Weg ist, um zum Reich Gottes zu kommen, theologisch gesagt, das heisst um zu Gerechtigkeit, Friede und Glück zu finden.

Werner: Mir geht es ähnlich. Als Psychotherapeut sehe ich, welche problematischen Folgen es hat, wenn Leiden verdrängt wird.
Noch eine letzte Frage zur christlichen Spiritualität, zu einem Thema, das mich seit Jahren bewegt: Für mich sind zwei "Herz-Bereiche" im Christentum zu erkennen: das Vaterunser, der andere Bereich ist die Eucharistie/das Abendmahl. Ich denke, diese Feier entspricht dem rituellen Herz-Zentrum; und dieses ist immer noch gespalten. Man heisst sich in den verschiedenen christlichen Kirchen nicht gegenseitig willkommen, feiert nur heimlich zusammen.

Reto: Offiziell ist es ja von unserer Seite her nicht gestattet.

Werner: Würde, so stelle ich mir vor, die Eucharistie/das Abendmahl wieder zum gemeinsamen "Herz" aller Christen werden, ein innerer Ort, wo sich alle, vereint, einfinden könnten, entstünde unwahrscheinlich grosse Heilkraft, die der Heilung des Planeten zugute käme. Diese heilende Energie brauchen wir heute.
Das bewegt mich und ich wüsste gerne, was du dazu denkst.


Reto: Ich kann dir da nur zustimmen. Ich denke das auch. Das letzte Konzil in den 60er Jahren sagte von der Eucharistie, sie sei Gipfel und Quelle der Einheit.
In Praxis und Lehre hat man seither nur herausgestrichen, dass sie Gipfel der Einheit sein soll, d.h. die Kirchen (die katholische, die reformierte, etc.), sollten zuerst Einheit auf allen anderen Gebieten finden: im Sozialen, im Kulturellen, in den Schulen, in der Verkündigung. Dann, wenn alles in allen Unter-Einheiten Eins sei, könne man auch zusammen Eucharistie feiern.
Aber das Konzil sagte doch auch, dass die Eucharistie die Quelle der Einheit sei.
Ich bin der Meinung, wir sollten zusammen die Eucharistie feiern, um Einheit zu finden, ungeachtet der theologischen, kirchenpolitischen und psychologischen Differenzen, die es gibt und die man nicht einfach wegdiskutieren kann.
Wenn wir die Eucharistie als Herzens-Angelegenheit verstehen, wir also vom Herzen, statt vom Kopf aus denken und handeln, dann käme uns die Einheit viel greifbarer entgegen.
Die Eucharistie als Quelle der Einheit; ich empfinde es als eine einseitige Interpretation des Konzils, wenn wir das ausblenden.
Vor Jahren bin ich auf etwas gestossen, das mich faszinierte: Alfons Rosenberg sagte, dass Jesus nicht nur das Abendmahl gefeiert habe, sondern auch das "Morgenmahl".
Du kannst im Evangelium lesen, dass Jesus das Abendmahl gefeiert hat und dann in den Tod ging. Nachdem er auferstanden war, begegnete er seinen Jüngern, mehrmals sogar (im Schlusskapitel des Johannes-Evangeliums wird das berichtet), am Ufer des Sees. Er hielt mit ihnen ein Mahl, frühmorgens, bei Tagesanbruch als Auferstandener, nicht als Leidender. - Rosenberg stellte die Frage, ob man nicht ein Morgenmahl feiern müsste, um dadurch mehr in die Auferstehung zu gelangen, statt der Abendmahl-Feier, die uns in das Leiden und den Tod gebracht hat - 2000 Jahre lang. Würde uns das Morgenmahl nicht eine neue Auferstehung bescheren? - Mich hat dieser Gedanke sehr fasziniert.
Durch Josua Boesch bin ich auf Rosenberg gestossen. Er hat über diese Vision auch geschrieben und Ikonen dazu geschaffen. Wenn wir das Morgenmahl feiern, müssen wir deutlich machen, dass es etwas anderes ist, als das Abendmahl, vor allem für Katholiken. Das Fest kann noch nicht recht anbrechen; wir sind immer noch in einer Art babylonischer Gefangenschaft. Aber wir feiern. - Wir feiern und teilen Brot und Wasser.

Werner: Das Wort "Notwendigkeit" gefällt mir deshalb so gut, weil es das Wort "Not" enthält und die "Wende", die aus der Not hervorgeht. Ich habe den Eindruck, dass wir in einer "not-wendigen Zeit" leben, in einer Übergangsphase. Die Moderne ist vorbei und die Post-Moderne wird wohl kurzlebig sein.
Welche Perspektiven erkennst du, welche Wende könnte eintreten, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinn? Worin bestehen deine Hoffnungen?

Reto: Negativ: dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Die Schere geht zwischen den Völkern und innerhalb der Völker auseinander.
Die horrenden finanziellen Abfindungen, Löhne und Börsengewinne sind unglaublich. Daneben erleben wir die Verarmung und Verelendung der südlichen Erdhälfte, aber auch Armut innerhalb unserer Länder. Das ist nicht zusammenzubringen, da sehe ich ein riesiges Problem. Ich weiss nicht, wie wir gewaltlos zu einem vernünftigen Ausgleich finden können.

Positiv ist die wachsende Einsicht zu erkennen, auch bei vielen, die vom Reichtum profitieren, dass es so nicht mehr weitergehen kann.
Es ist meine Hoffnung, dass es immer mehr werden, die das sehen. Oft müssen Menschen eine Phase von exorbitantem Genuss "durchmachen", bis irgendwann der "Absteller" kommt und die Einsicht, dass es auch ein anderes Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Menschen und Schöpfung geben könnte und dass es so wie bisher einfach nicht weitergehen kann. Einerseits sind eine Polarisierung und eine politische Radikalisierung feststellbar. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) zum Beispiel will gar keinen Konsens mehr.
Auf der andern Seite ist bei vielen Menschen, die spüren, dass es so nicht mehr weitergehen kann, etwas am Aufbrechen. Es driftet alles auseinander. Ich weiss nicht, was uns im Innersten noch zusammenführen kann und ob eine Vision (oder ein Anliegen) auftaucht, von der man sagen kann, dass das uns jetzt verbindet. Ich meine nicht einfach ein oberflächliches Anliegen wie "der Kampf gegen den Islam". Ich hatte erst das Gefühl, es entstehe nach dem 11. September eine Solidarität, aber die hat sich natürlich sofort wieder gegen einen Sündenbock gewendet. Man schliesst sich zwar zusammen, schliesst aber gleich auch wieder andere aus, und das verschlimmert die Situation.

Werner: Wie sieht dein Sehnsuchts- und Hoffnungsbild einer freieren, gelösteren Menschheit aus?

Reto: Es gibt auch real-politisch immer wieder Überraschungen: der Fall der Berliner Mauer. Das erinnert mich, dass nicht alles so läuft, wie man es manchmal befürchtet oder meint. Es gibt Geschehnisse, die alles "über den Haufen werfen" und wieder Horizonte öffnen, an die man nie gedacht hätte. Die Bilanz des Mauerfalls ist nicht einfach positiv, aber es hat doch für viele Menschen ein grosses Aufatmen und eine grosse Befreiung gegeben.
Das ist ein Zeichen für mich, dass man nicht resignieren soll. So oder so: Wenn irgendein Gedanke oder eine Tat einem Menschen ein Stück Freiheit bringen kann, dann hat es sich gelohnt.
Mit Luther würde ich auch sagen: Wenn die Menschheit heute untergehen sollte, dann würde ich vorher noch ein Apfelbäumchen pflanzen. Auch wenn man nicht mehr die Äpfel ernten kann, so hat man doch noch ein Bäumchen keimen und wachsen gesehen. Oder wenn man nur schon weiss: ich habe einen Apfelkern in die Erde gelegt, das Samenkorn für neues Leben und Hoffnung auf neue Nahrung; das ist es schon wert. Ich denke, dass wir unermüdlich dranbleiben müssen... und vielleicht gibt es wieder mal eine Mauer, die fällt.
Letztlich bin ich überzeugt, dass die Menschheit eine unglaubliche Kraft zum Vorwärtsgehen hat, Kraft, den Sinn der Geschichte zu suchen, zu verwirklichen, sich
immer wieder aufzuraffen aus Katastrophen, um doch ein bisschen einsichtiger zu werden, um doch einmal Solidarität zu finden und Rücksicht aufeinander zu nehmen.
Es sieht im Moment nicht darnach aus. Es ist zu beklagen, dass dieser Prozess immer wieder enorm viel Opfer produziert. Das ist furchtbar.
Wir sind in der Position der Gewinner, nur schon dadurch, dass wir hier leben und wohnen und von dieser Gesellschaft profitieren.
Ich glaube aber, dass es auf verschiedenen Gebieten eine Besserung gibt. Ich kenne viele, die diese Wahrnehmung mit mir teilen, und deshalb bin ich auch relativ gelassen.

Werner: Gibt es etwas wie ein Menschheits-Bewusstsein, das im Entstehen begriffen ist? Gibt es ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen, das dabei ist, sich zu entwickeln? - Ein Menschheits-Selbst?

Reto: Noch sehr zaghaft. Aber, ich denke, es ist nicht zu vermeiden. Das wollen zwar die, welche die Globalisierung vorantreiben, nicht unbedingt. Sie wollen Waren und Profit verschieben, aber ich glaube, es ist nicht zu vermeiden, dass damit auch ein gemeinsames menschliches Bewusstsein wächst: die Wahrnehmung anderer Kulturen, anderer Ideologien und Religionen, anderer Lebens- und Menschheits-Entwürfe. Das würde zur Einsicht führen - früher oder später -, dass wir das Zusammenleben lernen müssen. Zu Beginn wird es Ausgrenzungen geben, auch neuen Rassismus, doch das Entstehen von Gemeinsamem ist unausweichlich, Gott sei Dank! Es ist, wie wenn Gott uns ein Schnippchen schlagen würde; wie wenn er uns sagte: Ich komme schon zum Ziel, ihr könnt mir noch so viele Steine in den Weg legen, oder: ihr könnt das noch so stark missbrauchen.

Auf der Rückseite der wirtschaftlichen Globalisierung kommt auch eine Globalisierung von Solidarität, von Gerechtigkeit, von Menschlichkeit, von Friedens-Gedanken und von spirituellem Bewusstsein. Es geht noch schrecklich lange und es kostet leider noch sehr viel. Das ist die Tragik der Menschheits-Geschichte. Am meisten beschäftigt mich, wie ich in diese Strukturen verwoben bin und sie unausweichlich mittrage, z.B. im Konsum, dem ich auch nicht entfliehen kann, und im Energieverbrauch, in den ich eingebunden bin. Das ist manchmal schwer zu ertragen, wie auch die eigene Bequemlichkeit schwer zu ertragen ist. Häufig schläft der Kampf um Gerechtigkeit ein. Du gewöhnst dich an den Luxus, die Annehmlichkeiten, die unsere Gesellschaft bietet. Du gewöhnst sich an sehr Vieles und machst dann sehr viel Unvernünftiges. Etwa, wenn wir soviel in der Weltgeschichte herumfliegen, oder Produkte konsumieren und nicht mehr nachfragen, ob sie aus gerechtem Handel stammen. Es ist auch anstrengend. Andererseits darf man nicht verbohrt und verbissen und freudlos werden. Man muss sich auch Genussfreudigkeit erhalten, sonst wird man selber ungeniessbar.

Werner: Möchtest du zum Thema etwas ergänzen oder nachtragen?

Reto: Ein Wissenschaftler sagte einmal nach einem Vortrag: "Das ist der gegenwärtige Stand des wissenschaftlichen Irrtums". Das war tröstlich und hat alles relativiert. Auch in der Astro-Physik und der Mikro-Biologie ist unser Wissen der gegenwärtige Stand des wissenschaftlichen Irrtums. Wir müssen uns bewusst sein, dass fertige Annahmen ein Irrtum sind. Was wir sehen und formulieren können, ist immer unvollkommen. Aber das hält und wach und am Leben.

Werner: Vielen Dank für das Gespräch.

In der Schriftenreihe "Globales Bewusstsein - humane Globalisierung" sind eben neu erschienen:
  • Interview mit Willis Jäger
  • Interview mit Annette Kaiser

Preis pro Heft SFr. 8.-- / 5.-- Euro, zzgl. Versandkosten.

Zu beziehen bei (Auslieferung ab August 2003):
SEBIL-Verlag, Limmattalstr. 50, 8049 Zürich
oder info@sebil.ch


"Globales Bewusstsein - humane Globalisierung"
Interview mit Neil Douglas Klotz
hinauf
Die erste Frage ist: Wenn Du als Zeitgenosse diese Welt betrachtest, so wie sie jetzt ist, was berührt Dich?

„Was mich am meisten bewegt, ist die starke Unterschiedlichkeit in der menschlichen Entwicklung auf verschiedenen Gebieten. Während ein Teil der Menschheit mit einem neuen Bewußtsein voranschreitet, hält ein anderer Teil ebenso stark am alten fest.

So müssen wir zwischen einem mehr holistischen, erweiterten Bewußtsein und der Kontrolle durch ein begrenztes Bewußtsein unser Lebensspiel spielen. Eine Parallele oder ein Spiegel davon ist die Benutzung der Ressourcen der Welt, ob es sich nun um Ideen, materielle Güter oder Reichtum im ganzen handelt. Einige Ressourcen werden von der ganzen Menschheit geteilt und andere werden von sehr wenigen Leuten unter Kontrolle gehalten. Daher bin ich nicht erstaunt darüber, daß es gleichzeitig mehr Interesse am holistischen, weltweiten Bewußtsein gibt, einem Bewußtsein, das Arme und Reiche, Besitzende und Habenichtse gleichermaßen einschließt, und es gleichzeitig eine große Angst vor diesen Strömungen und ein intensives Festhalten am Alten gibt. Hier bestehen extreme Gegensätze, und die Spannung zwischen diesen beiden Strömungen bewegt mich jetzt.“

Ich möchte gleich hier noch verweilen bei dem, was Du über diese Spannung zwischen dem aufbrechenden holistischen Bewußtsein und jener anderen Tendenz des Zurückhaltens und des Bleibens im Alten gesagt hast. Das erzeugt eine zunehmend große Spannung in den Völkern und in allen Einzelnen. Wie gehst du mit dieser Spannung um, wie können wir kreativ oder gut mit dieser Spannung umgehen, was können wir damit machen?

„Auf einer persönlichen Ebene finde ich, daß meine eigene spirituelle Praxis in der Sufi-Tradition mir mit dieser Spannung weiterhilft. Im Sufismus ist das Training des Herzens das Wichtigste. Wir sehen das Herz nicht nur als ein Chakra oder als ein emotionales Zentrum, sondern als unseren Mittelpunkt mit der Fähigkeit, alle Gegensätze in unserem eigenen, persönlichen Leben zu umschließen und zu umarmen. Diese Entwicklung geht sehr schrittweise vor sich. Um es einmal so auszudrücken: Das Herz erweitert sich, um das ganze Wesen einzuschließen, und das ganze Wesen wird Herz. Auf einer globalen Ebene würde ich sagen, daß die verschiedenen Praktiken aller großen spirituellen Weisheitstraditionen ein großes Reservoir anbieten für solche Menschen, die in der Lage sind, kreativ mit dieser Spannung zu arbeiten. Du kannst das ganz einfach die Spannung zwischen Liebe und Angst nennen: Die Angst voranzugehen und die Kontrolle, die sie mit sich bringt, im Gegensatz zu der Liebe, die Mitgefühl für den anderen kultiviert und den anderen Menschen tatsächlich als das eigene Selbst betrachtet.

Die Herausforderung bei der Anwendung der großen spirituellen Praktiken der Menschheit ist, daß sie im großen und ganzen in gewisse religiöse Traditionen eingebettet wurden, die es für viele Menschen schwierig machen, diese Übungen auch wirklich zu erreichen und zu benutzen. Jesus übte Kritik an den religiösen Autoritäten seinerzeit, indem er sagte: „Ihr Priester kontrolliert das religiöse Leben der Menschen und haltet sie nieder, haltet sie arm und verlangt auch noch, daß sie bezahlen, um in den Tempel zu kommen und daß sie einen bestimmten Standard von Reinheit erfüllen. Ihr haltet die Schlüssel zum Königreich fest, ihr erlaubt nicht, daß die Menschen sie benutzen, und ihr selbst benutzt sie auch nicht.“ So sehen wir heutzutage in allen religiösen Traditionen einen Spiegel der gleichen Art von Spannung zwischen der spirituellen Gemeinschaft als eines offenen Platzes, wo die Menschen in Mitgefühl und Weisheit zusammenkommen können und der spirituellen Gemeinschaft in der Abgeschlossenheit in Angst und unter strikter Kontrolle. In denjenigen Orten, in denen die Gemeinschaften offen sind und wo auch ein Gefühl von Offenheit vermittelt wird, da kommen die Menschen hin; sei es im Christentum, im Judentum, im Hinduismus, im Buddhismus, im Islam oder irgendeiner anderen Tradition. Sie kommen, um spirituelle Nahrung zu erhalten. Wo es aber ein Gefühl von Kontrolle und Furcht gibt, sind diese religiösen Institutionen leer, und die Menschen verlassen sie entweder oder verstricken sich selbst immer tiefer in Angst. Die Schwierigkeit, vor der wir stehen, besteht darin, daß viele Menschen unangenehme Erfahrungen mit Autoritäten religiöser Institutionen gemacht haben, besonders junge Leute neigen dazu, alles abzulehnen, was mit Spiritualität, Heiligkeit oder Verehrung zu tun hat. Durch die materialistische Kultur, die sie im Westen umgibt, werden sie noch dazu ermutigt. Ohne jedoch irgendeinen Sinn von Verehrung für etwas außerhalb der eigenen Person zu pflegen, ist es schwierig, der Erde Verehrung entgegenzubringen oder ganz allgemein Respekt vor einer anderen Person zu haben, die von einem selbst verschieden zu sein scheint.

Hieraus ergibt sich die zunehmende Fremdenfurcht. Das ist die Furcht vor dem anderen in unseren multikulturellen Gesellschaften, die Angst vor dem Eindringling, die Angst vor dem Fremden und auch eine ganze Portion von Gewalt gegen Menschen,, die anders zu sein scheinen.“

Du setzt dich seit vielen Jahren für Wachstumsprozesse ein, die sowohl die körperlich-seelische Ebene, die geistige Ebene, aber auch die Handlungsebene betreffen. Als spiritueller Lehrer im Bereich des Sufismus und der christlichen Mystik lehrst du die nicht so bekannte Ebene des aramäischen Christentums. Du knüpfst an diese aramäische Tradition an, um diese Überlieferung ans Licht zu bringen. Welche Einsichten und Erkenntnisse sind dir in dieser Tradition von besonderer Bedeutung? Und was motiviert dich, diese Weisheit weiterzugeben?

„Ich bin seit Jahren mit der Erforschung der aramäischen Sprache und Kultur von Jesus beschäftigt. Was mich an diesem besonderen Zugang zur Weisheit von Jesus besonders beeindruckt, ist, daß dort besonderes Gewicht auf die Erde gelegt wird, von welcher er kam. Dieses Geerdetsein ist etwas, das wir in den Worten von Jesus und seinen Lehren vermisst haben. Es sind nicht so sehr neue Ideen darüber; denn es hat sehr viel kreative Theologie auch in der letzten Generation über die Worte von Jesus gegeben. Zum Beispiel haben die Prozess-Theologie und auch das Werk von Hans Küng viele Menschen stark beeinflußt. Dies ist wirklich wunderbar.

Wenn man nun Jesus durch seine aramäische Sprache und Kultur betrachtet, wenn man ihn als eine Person seiner eigenen Zeit und wirklich auch seiner eigenen Erde sieht, finde ich das, was wir in seiner Kosmologie - d. h. in der Art, wie er sich im Zusammenhang des Gesamtuniversums sieht - bisher vermißt haben, und wir finden auch seine Psychologie. Diese beiden wichtigen Dimensionen seiner Lehre sind verlorengegangen, als seine Worte durch eine westliche platonische, d. h. griechische Brille interpretiert wurden. In der platonischen Weltsicht sind Himmel und Erde sehr stark voneinander getrennt. Die innere und die äußere Welt sind voneinander getrennt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind sehr voneinander getrennt. Alles wird in seiner eigenen, besonderen Zeit betrachtet. Die Vergangenheit ist nicht durch die Gegenwart beeinflußt, die Zukunft beeinflußt nicht die Gegenwart, die Gegenwart beeinflußt weder die Vergangenheit noch die Zukunft. Im Aramäischen oder Althebräischen haben wir diese klaren Trennungen nicht. Die innere Dimension der Existenz, was wir die psychologische Dimension nennen würden, und die äußere Dimension, d. h., wie wir in der Welt und in der Natur agieren, sind ganz tief miteinander verknüpft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können einander jederzeit beeinflussen. Man kann den Himmel als das Universum von Shem - Klang und Schwingung des Göttlichen - sehen, was alle Wesen miteinander vereint. Man kann die Erde als das Universum von Arete - der individuellen Existenz - sehen, was jedem Wesen die Möglichkeit gibt, sein einzigartiges Geschenk dem Kosmos darzubringen.

Wenn man diese Aspekte in den Lehren Jesu wiederentdeckt, geschehen zwei Dinge. Erstens entdecken wir, daß Jesus das war, was ich einen eingeborenen Menschen des Mittleren Ostens nennen würde. Auf diese Weise kann das Christentum seinen angemessenen Platz ohne Dogmatismus an einem runden Tisch einnehmen, der alle religiösen Traditionen und ihre Weisheitslehren umschließen kann. Nach meiner Ansicht ist es nicht so wichtig, an Jesus zu glauben, sondern es ist wichtig zu glauben, wie er es tat. Es ist wichtig, Erfahrungen zu machen, wie er Erfahrungen machte, als er im Evangelium des Johannes sagte: „ Die, die nach mir kommen, werden dieselben Dinge tun wie ich und noch größere als diese.“ Er hat seine Schüler immer angetrieben und eingeladen, dies zu tun. Und manche haben es tatsächlich getan.

Zweitens: Für diejenigen unter uns, die als Christen oder unter christlichem Einfluß erzogen wurden, füllt die Sicht des aramäischen Jesus eine Leerstelle in unserer Psyche. Sie heilt die Abtrennung zwischen Himmel und Erde, die es in der Sprache von Jesus nicht gab. Sie kann die Trennung zwischen reich und arm, zwischen innen und außen und allen anderen Dualitäten heilen, auf die eine Anzahl von Philosophen und Theologen hingewiesen hatten.

Was mich motiviert, diese Arbeit mit anderen zu teilen, ist meine eigene spirituelle Haltung. Es fing an, als ich noch sehr jung war. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo Spiritualität wichtiger war als Religion. Mein Vater war ein holistischer Arzt, ein Chiropraktiker, der in den USA in der Nähe von Chicago lebte. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter waren an holistischer Gesundheitspflege und Ökologie interessiert. Was meine Brüder und ich als religiöse Grunderziehung erhielten, war Spiritualität und nicht Dogma. Unsere Eltern lasen uns Geschichten aus der Bibel vor und ließen uns dann unsere eigenen Entscheidungen über diese Dinge fällen. Zusätzlich zu ihren Interessen in Bezug auf Ökologie und Spiritualität gingen meine Mutter und mein Vater auch zu Gruppen, die das Werk von Edgar Cayce, dem berühmten amerikanischen Hellseher, studierten. Auf einer äußeren Ebene jedoch wurde uns beigebracht, als ganz normale protestantische Christen aufzutreten, da wir in einer sehr konservativen Gegend der Vereinigten Staaten lebten. Wir gingen in eine lutherische Kirche, tatsächlich in eine sehr konservative lutherische Kirche und besuchten lutherische Schulen. Nachdem mein Vater als holistischer Arzt arbeitete, durften wir uns nicht zu sehr von den Menschen in unserer Gemeinde entfernen. Sonst würden die Leute ihm nicht vertrauen, und er würde seine Arbeit verlieren.

Als ich mich auf meinen eigenen spirituellen Pfad der Suche begab, ging ich so weit vom Christentum weg, wie ich konnte, d. h., es schien so. Aber schlußendlich, wie Carl Gustav Jung einst sagte, endete ich dort, wo ich begann. Und ich verbringe meine meiste Arbeitszeit damit, das zu übersetzen, zu interpretieren und zu erfahren, was ich als die spirituellen Praktiken ansehe, die Jesus uns zu geben kam. Das war wirklich die Quelle meiner Motivation. Was ich schreibe und was ich lehre, ist Teil meiner eigenen spirituellen Praxis und nicht so sehr etwas, was ich nur für andere Leute tue.“

Die aramäisch-hebräische Tradition beruht weniger auf dieser Dualität und auf einer Spaltung zwischen Himmel und Erde, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nehmen wir einmal an, eine Mehrheit der Menschen würde die materielle Welt auch gleichzeitig als beseelt und geistig erleben, was würde sich Deiner Meinung nach auf dieser Welt ändern?

„Was anders sein würde, ist nach meinem Gefühl, daß sich in der Kultur und in der Politik andere Prioritäten bewußt und öffentlich ausdrücken würden. Ich sage nicht, daß notwendigerweise alles über Nacht anders wäre; denn es würde Herausforderungen geben, und es würden immer noch Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Wenn jedoch dieser Sinn von Verehrung und Heiligkeit anerkannt würde und besonders auch von den Regierungen der Welt gelebt würde, dann würde auch eine substantielle Anstrengung gemacht, um die Leiden der Menschen zu lindern.

Das würde den Worten von Jesus Realität geben: „Was immer ihr dem Geringsten unter diesen tut, das habt ihr mir getan.“ Ich sehe in manchen Ländern eine steigende Bewußtheit in dieser Hinsicht, aber davon könnte es noch sehr viel mehr geben. Wenn wir alleine schon auf die Art und Weise schauen, wie Land und Ressourcen in der Welt verteilt sind, wenn wir auf die Art schauen, wie die Erde selbst behandelt wird - was kommende Generationen beeinflußt - dann sind wir, gemessen an Jesu eigenem Standard, nicht sehr gut. Alle religiösen Traditionen haben gleiche Lehren. Es geht nicht darum, daß eine Lehre besser ist als eine andere. Es ist eine Sache des Handelns nach diesen Lehren.

Die meisten spirituellen Traditionen der Welt bringen zum Ausdruck, daß man einen anderen wie sich selbst behandeln soll oder so, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Die Art, wie du einen anderen behandelst, ist die Art, wie du dein eigenes unterbewußtes Selbst auf einer sehr grundlegenden Ebene behandelst. Jesus lehrte das sehr klar. Er sagte: „ Liebe deinen Nachbarn, denjenigen, der neben dir lebt, in der Art, wie du dein Naphsha, was wir mit unterbewußtem Selbst bezeichnen würden, liebst. Er setzt die Art, wie du deinen Nachbarn liebst, gleich mit der Art und Weise, mit der du dein Unterbewußtsein liebst, den Teil in dir, mit dem du häufig in Konflikt bist, der eigene unterschiedliche Stimmen hat, der hell und dunkel, Ehre und Charme in sich hat. Liebe und anerkenne dein Bewußtsein, das voller Gegensätze ist, in derselben Weise, wie du deinen Nachbarn liebst. Deine Nachbarn sind ebenfalls voll dieser Gegensätze und Widersprüchlichkeiten. Es wird immer Unterschiede in den Fähigkeiten, Qualitäten und Talenten geben. Bis zu einem bestimmten Grad wird es auch immer Krankheit, Unglück und Tod geben. Aber, was die Menschen einander antun, indem sie Ressourcen horten und die Erde nicht mit Achtung behandeln, diese Dinge könnten wir ändern, und sie würden sich sehr schnell ändern lassen. Wir haben alle Mittel, die wir brauchen, um all das zu tun. Zahlreiche Studien haben gezeigt, daß wir alle Ressourcen haben, die gebraucht werden, um die Probleme von Armut, mangelnder Erziehung und Ökologie in der Welt zu lösen. Wir müssen kollektiv als Menschheit diese Absicht klar zum Ausdruck bringen und auch in die Tat umsetzen.“

Ich denke manchmal, daß uns keine Zeit bleibt, mit ganz kleinen Schritten die Dinge auf der Welt zum Besseren zu ändern. Es braucht einen tieferen Wandel, Transformationsarbeit, damit rasch grundlegend etwas in der Tiefe sich verändern kann. Bitte sprich darüber, über Transformations- und Wandlungsarbeit, und was Dir dazu in den Sinn kommt.

„Da ist ein Punkt, den ich immer im Sinn habe, wenn ich meine eigene Arbeit tue, und das ist, daß ich nicht immer die Folgen dessen vorhersehen kann, was ich in Bewegung setze. Ich weiß nicht immer, wer davon berührt oder verändert wird, und in welcher Weise diese Menschen dann ihre Umgebung verändern. Es ist nicht alles in meiner eigenen Hand, so daß ich es auf der Persönlichkeitsebene tun könnte. Wenn ich mich auf den Augenblick konzentriere und die Geschenke und Talente anbiete, die ich bekommen habe, dann ist das eigentlich alles, was ich tun kann. Wenn ich dagegen daran denke, daß ich selbst persönlich es unternehmen sollte, alles in der Welt zu verändern, dann gerate ich in die Nähe der Verrücktheit. Da geht es nicht nur um Größenwahn. Ich finde diese Tendenz oft in Menschen, wie wir es sind, die schwierige Arbeit tun oder die als Lehrer in der Welt arbeiten. Wir sehen, was in den Zeitungen berichtet wird, was normalerweise sowieso nur die negativen Dinge sind. Wir sehen die positiven Dinge eigentlich nicht wirklich. Aber da gibt es eine Segenskette, die hinausgeht, von den Menschen, die wir berühren, zu den Menschen, die sie berühren und so immer weiter, ausgehend von irgendeiner kleinen Tat. Was die endgültige Wirkung ist, ist ziemlich schwer zu sagen, weil keine der vielen, aus Mitgefühl erbrachten Leistungen, für „nachrichtenwürdig“ befunden wird.

Der andere Punkt, aus dem ich Hoffnung schöpfe, ist, daß alle großen Bewegungen, welche die menschliche Kultur verändert haben, sich immer von der Peripherie zum Zentrum hin bewegt haben. Das bedeutet, daß sie immer mit kleineren Bewegungen an den Rändern der Kultur beginnen und sich dann verhalten wie eine Sanddüne: Ein Sandkorn fällt auf die Düne, sammelt mehr und mehr, und schließlich bewegt sich die ganze Sanddüne. Auf die gleiche Art und Weise scheint sich jede große Veränderung in der menschlichen Kultur zu ereignen. So finden wir auf einer Ebene die Spannung , von der ich schon vorhin gesprochen habe : Ein Zurückhalten und ein Voranschreiten. Dieses scheint eine sehr spannungsreiche Zeit zu sein. Und dann kann es da eine vollständig andere Ebene der Veränderungen geben, die wir noch gar nicht bemerken, wo der Sand sich bereits bewegt, um die ganze Düne in Bewegung zu setzen. Es kann eine sehr plötzliche Veränderung geben, in der wir uns umschauen und fragen: Wie konnte all dies geschehen? Es scheint über Nacht geschehen zu sein. So etwas ereignet sich nicht oft, aber es hat sich bereits ereignet, und ich glaube, daß es auch wieder geschehen kann. Das ist eine andere Sorte von Veränderung gegenüber derjenigen, die auf einem Konflikt beruht, in dem eine Gruppe eine andere besiegt, dann die Oberhand gewinnt und schließlich genauso schlecht ist wie die erste Gruppe oder noch schlechter. So etwas sehen wir sehr häufig in der heutigen Welt. Aber gelegentlich sehen wir nach vielem Kampf und sehr langsamen Veränderungen unter der Oberfläche einen vollständigen Wandel des Bewußtseins und der Handlungsweise in einer Gruppe von Menschen oder einer Nation. Dies sahen wir z. B., als Südafrika die Apartheid beendete oder als die Berliner Mauer fiel. Diese Zeitpunkte sind Wasserfälle in der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins. Ich erwarte diese Art von ganzheitlichem Wandel des menschlichen Bewußtseins in unseren Beziehungen zueinander und zur Erde.“

Du machst sehr viele Reisen zwischen Ost und West, gibst große Seminare in Westeuropa, in Osteuropa, aber auch auf anderen Kontinenten. Du siehst die Unterschiede auch im Bewußtsein und in der Lebensweise zwischen dem Osten und dem Westen. Was fällt dir dabei auf, und was machst Du Dir für Gedanken über diese Unterschiede?

„Wir könnten über die Unterschiede zwischen einzelnen Ländern sprechen in Bezug auf Herausforderungen, Entwicklung, Temperament und die Dinge, die wir in Bezug auf das menschliche Bewußtsein schon besprochen haben. Es ist sehr schwierig, generelle Aussagen über ganze Länder oder auch über Ost und West zu treffen. Ich habe festgestellt, daß einige Länder durch eine tiefe Leidensperiode gegangen sind. Die Menschen in diesen Ländern haben oft ein tieferes Sinnbewußtsein oder größere Spannkraft. Sie sind fähig, nach dem Leiden zurückzukommen. Sie haben in mancher Beziehung eine größere spirituelle Anpassung oder Tiefe, mit der sie Praktiken und Lehren annehmen können und mit der sie auch fähig sind, diese anzuwenden. Sie haben eine größere Fähigkeit, sich zu konzentrieren und mit einer Sache über einen längeren Zeitraum beschäftigt zu bleiben.

Alle spirituellen Traditionen schätzen diese Qualitäten und halten sie für wesentlich für die verschiedenen Formen von Meditation. Könnte man dann sagen: Also gut, Leiden ist eine gute Sache? Wir haben doch darüber gesprochen, das Leiden der Völker zu erleichtern? Dies ist eine gute Frage. Sicherlich wird es immer einen gewissen Sinn vom persönlichen Leiden geben und die Erfahrung von Leiden mit anderen, auch wenn Du selbst nicht davon betroffen bist. Einer meiner spirituellen Lehrer sagte, daß er fast ebensoviel aus dem Schmerz und Leid in seinem Leben gelernt hat, wie er aus der Liebe gelernt hat. Das Leiden hat ihn ausgehöhlt, es schuf in seinem Wesen eine Tiefe, einen Raum für Mitgefühl mit anderen Menschen.

Ich sehe bei meinen Reisen gewisse Trends, besonders, wenn ich in Länder fahre, wo die meisten Menschen wirklich sehr wenig oder nichts haben, wie beispielsweise Rußland oder Brasilien. Und doch haben die Leute dort irgend etwas anderes. Ich möchte diesen Zustand nicht idealisieren, aber sie haben tatsächlich einen Sinn für Tiefe, für Konzentration, für Durchhaltevermögen, den die Menschen im Westen nicht haben.

Auf der anderen Seite begegnet man Schwierigkeiten, wenn man in sehr reichen Ländern lehrt. Ich bemerke den Unterschied ganz deutlich, wenn ich z. B. von Rußland oder Brasilien in die USA zurückkehre oder hier nach Westeuropa reise. Aufgrund des Einflusses des Fernsehens und der Werbung ist die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen viel kürzer. Sie können sich nicht so gut konzentrieren. Sie müssen jeden Augenblick unterhalten werden, so daß die Dichte der Gefühle oder Gedanken, welche die Menschen annehmen können, viel geringer ist. Und alles muß in kleineren und immer kleineren Portionen verabreicht werden.

Ich wurde darin erinnert, als ich eine Kassettenserie in den Vereinigten Staaten machte, die von einer ganz wundervollen Gruppe dort produziert wurde. Es gab einen neunstündigen Kassettenkurs, und mir wurde gesagt, daß wir alle 15 bis 20 Minuten die Energie ändern und etwas anderes tun müßten. Der Grund lag darin, daß 15 bis 20 Minuten der längste Zeitraum ist, für den sich die meisten Amerikaner hintereinander konzentrieren können. So ging das während der ganzen neun Stunden und alle 15 Minuten mußten wir anhalten und die Energie ändern: Irgend etwas Praktisches tun, eine Geschichte erzählen oder Musik spielen. So kann man sagen, daß aufgrund des Fernsehens und des Internets sich unsere Kultur in eine bestimmte Richtung bewegt. Wir werden darauf eingestimmt, viele sehr schnelle Antworten zu geben. Doch mit all diesen sehr schnellen Antworten wird es für die Menschen immer schwieriger, länger bei einem emotionalen Fühlen oder dem Bewußtsein ihres Körpers zu verweilen. Der Sinn für unser eigenes Körpergewahrsein und für unsere Fähigkeit, uns emotional in etwas hineinzufühlen, wird immer geringer.“

Der Körper als Gefäß oder als Tempel ist bei dieser Lebensart, die Du hier geschildert hast, ja überfordert durch diesen raschen Wechsel. Durch diesen Mangel an Konzentration ist es ja schwierig, sich einzupflanzen in den Boden, die Erde zu spüren, und damit fehlt eigentlich auch die Grundlage zur Veränderung und zum Wachstum. Diese Einsicht ist mir jetzt eben gekommen nach dem, was du gerade gesagt hast. Welche Schritte in der Weiterentwicklung des Bewußtseins, des Lebendigseins gerade in unserer Kultur, welche Schritte sind nötig, und welche Schritte stehen uns bevor?

„Ich fühle sehr stark, daß wir auf allen Ausbildungsebenen ein Minimum an Erziehung zum Körperbewußtsein einbauen sollten. Es sollte das gefördert werden, was manche psychologischen Kreise somatische Erziehung nennen. Auf einer sehr einfachen Ebene müssen wir die Menschen zurückführen zur Erfahrung ihres eigenen Atems und zu den tieferen Gefühlen der Körperlichkeit, ohne Rücksicht darauf, welches Fach gerade gelehrt wird. Es ist wichtig zu wissen, was wir wirklich fühlen in unseren Körpern und auf einer anderen Ebene in unseren Emotionen. Der österreichische Psychologe Wilhelm Reich hat darauf hingewiesen, ebenso wie der englische Erzieher A. S. Neill.

Ich gehöre einem Netzwerk an, wo wir eine Form von Erziehung zum Körpergewahrsein praktizieren, welche „Tänze des universalen Friedens“ genannt wird. Diese Tänze wurden von dem Sufi - buddhistischen Lehrer Samuel L. Lewis (Sufi Ahmed Muradchishti) begonnen. Sie enthalten eine Reihe von Praktiken der Meditation im Schreiten. Ich benutze diese, soviel wie möglich, in all meinen eigenen Gruppen oder Kursen. Die meisten Universitäten erkennen diese Ebene der experimentellen Erziehung selbst heute noch nicht an, und dennoch verändern sich die Dinge langsam. Auf dem Feld der Psychologie wird es heute als gute Praxis angesehen, daß du selbst Therapieerfahrungen hast, wenn du eine Ausbildung als Psychotherapeut absolvierst. Dies ist sehr logisch und macht viel Sinn.

Kürzlich habe ich in einem Aufsatz, den ich für die „Gesellschaft für biblische Literatur“ für ihre internationale Konferenz schrieb, vorgeschlagen, daß, wenn jemand als Wissenschaftler an einem biblischen Text in Form von Interpretation oder Übersetzung arbeitet, dieser Mensch bereit sein sollte, anzuerkennen, was seine oder ihre spirituellen Erfahrungen sind. Ob man sie nämlich wegschiebt oder nicht, die Erfahrungen, die jemand in diesem Bereich macht, gehen in dessen Interpretation oder Übersetzung des betreffenden Textes ein. Langsam erkennen die akademischen Studien für Religion das an, was sie Phänomenologie der Religion nennen. Und zwar nicht einfach als eine Idee, sondern auch als eine Praxis.

Wir sollten z. B. Lehrer der vergleichenden Religionswissenschaften einige Worte über ihre eigenen Erfahrungen sagen hören, bevor sie beginnen, uns eine Vorlesung über ein bestimmtes Thema zu halten. Sie sollten dann auch ihre Studenten ermutigen, nicht nur über Ideen nachzudenken, sondern diese - allerdings in einer disziplinierten Art und Weise - auch zu fühlen. Wie fühlt sich das in deinem Körper an? Was ist deine Erfahrung davon? Steht dies überhaupt in einer Vebindung mit deiner spirituellen Erfahrung? Und wieder, in dem kleinen Teil meiner Arbeit, der wissenschaftliche Studien der Mystik umfaßt, versuche ich, diese Veränderungen zu fördern. Was auf den höheren Ebenen der Erziehung geschieht, kann durchaus die Herangehensweise in den noch wichtigeren Ebenen der Erziehung von Kindern beeinflussen. Wir sollten Kinder auf eine liebevolle Art und Weise ermutigen, sich in ihren Körpern zuhause zu fühlen und zu konzentrieren, was in Wirklichkeit bedeutet, glücklich zu sein mit einem Gefühl. Sicherlich ist der Geist wichtig. Aber es sollte auch Zeiten geben, wo es Kindern erlaubt ist, sich in und durch ihre Körper zu konzentrieren. Das könnte z. B. bedeuten, während des Tages für einige Minuten Stille zu bewahren und einfach nur zu fühlen, was passiert. Die meisten spirituellen Traditionen haben einige Praxis von mitfühlendem Schweigen - einfach wahrnehmen, fühlen, erfahren, den Körper, den Atem, den Herzschlag, und dann sich selbst mit alledem in Frieden fühlen. All dies sollte in den Tagesablauf eingebaut werden, und zwar früh in der Erziehung, so daß Kinder nicht immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen durch ihre Videospiele und das Fernsehen entwickeln. Als ich vergangenes Jahr in Brasilien war, lehrte ich an einer Schule, wo die Kinder tatsächlich in dieser Art gelehrt wurden. Diese Kinder hatten eine erstaunliche Tiefe. Sie konnten sich über lange Zeiträume konzentrieren, sie konnten die universalen Friedenstänze besser als die meisten Erwachsenen in den USA mitmachen, obwohl sie sie niemals vorher gelernt hatten. Sie waren zuhause in ihren Körpern und fühlten sich eins mit ihren Gefühlen. Sie brauchten nicht dauernde Stimulation von außen. Sie waren, könntest du sagen, natürlichere Wesen.“

Nun zur letzten Frage. Teilst du meine Ansicht, daß das Bewußtsein der einen Menschheit ein nächster Schritt in die Evolution sein könnte? Ein erwachendes Menschheitsbewußtsein sozusagen. Und was hast Du für eine Vision, wenn Du davon ausgehst, daß sich die Menschheit vielleicht als eine Familie erkennen kann. Hast Du ein Bild, eine Vision einer erwachten, befreiten Menschheit, und wie sieht das aus?

„Lass uns mal für einen Moment auf die Menschheitsevolution im ganzen schauen. Vor langer Zeit in der Menschheitsgeschichte, vielleicht vor 50.000 oder 100.000 Jahren, fingen wir an, eine Art von Gruppenbewußtsein zu entwickeln, bei dem jedes Individuum in seinem oder ihrem Clan oder Stamm eingebettet war. Zu dieser Zeit gab es vermutlich sehr wenig Sinn für ein individuelles „Ich“. Irgendwann trat dann eine starke Verschiebung des Bewußtseins ein, so daß die Menschen ihren Sinn für ein Selbstbewußtsein - das „Ich“ zusätzlich zum „Wir“- entwickelten. Nun haben wir Tausende von Jahren mit der Entwicklung dieses individuellen Bewußtseins zugebracht. Wir sind fast an das Ende des „Ich“ in der Form, wie wir es kennen, gelangt. Wir haben das „Ich“ so weit gebracht, wie es nur irgend gehen kann, ohne uns selbst zu zerstören. Jetzt müssen wir ein stärkeres, ausgeglicheneres „Wir“ entwickeln. Das wird nicht dasselbe Gruppenbewußtsein ergeben, mit dem wir angefangen haben, da unser Sinn für den ganzen Planeten sich auf andere Ebenen hin entwickelt hat, als wir sie zuerst hatten.

Wir wissen nicht wirklich, wie dies alles aussehen wird. Wir haben eine Intuition über die Art, wie es sein könnte, da die großen Mystiker der Menschheit dieses ausgedehntere Gruppenbewußtsein mit Mitgefühl verkörpert haben. Sie sind in der Lage, zwischen dem „Ich-Bewußtsein“ und dem „Wir-Bewußtsein“ das Gleichgewicht zu halten, und zwar sowohl individuell als auch in der Gesellschaft, d. h. in einem viel größeren Umfang. Die Frage ist also nicht, ob Menschen das überhaupt können. Wir haben es ja gesehen. Wir haben Menschen in religiösen und spirituellen Traditionen gesehen, ebenso wie Künstler und andere nicht-religiöse Prophetenfiguren, die dieses Bewußtsein gehalten haben. Die Frage geht dahin, ob dieser Bewußtseinszustand der normale Zustand für die meisten Menschen oder fast alle Leute auf diesem Planeten werden kann. Das ist die große Frage in unserer Zeit: Kann das geschehen? Und wenn ja, wann? Wie können wir diesen Sinn für die Menschheitsfamilie fördern?

Auf eine Art ist es gut, daß wir nicht ganz genau wissen, wie die Zukunft aussehen soll; denn wenn wir eine klare Vision hätten, würden wir versuchen, diese klare Vision in die Tat umzusetzen. Und diese Form von Kontrolle könnte eine fließende, kreative Zukunft verhindern. Kontrolle ist genau das Gegenteil von dem Weg, von dem ich denke, daß wir ihn gehen. Wie der Begründer der universalen Friedenstänze, Samuel L. Lewis, einmal sagte: Eine Vision, die so klar ist, daß sie festgefahren ist, ist nicht wirklich hilfreich. Eine Vision sollte fließend sein, sie sollte offen sein für Veränderungen. Sie sollte offen sein für die Entwicklung, die die Dinge im Verlaufe der Verwirklichung nehmen. Das ist auch der Grund, warum ich nicht sehr an all die Voraussagen glaube, die dauernd von diesem oder jenem Hellseher durch das Internet geschickt werden. Die Dinge ändern sich jeden Augenblick. Wir brauchen einfach nur unser Bewußtsein offenzuhalten und so fließend wie möglich. Auf diese Art werden wir bereit sein, zur rechten Zeit unsere Rolle im nächsten Evolutionssprung zu spielen.“

Danke für das Gespräch!




Textauszug aus dem Interview mit Professor J.Hurtak
"Globales Bewusstsein - humane Globalisierung"

hinauf
Auf der persönlichen Ebene: Wie erfahren Sie diese Veränderungen in Ihrem Leben und Ihrer Umwelt?

Es ist eigentlich ganz einfach, auf sein eigenes Herz zu hören, das Auge zu aktivieren, um die schönen Farben in der Natur zu sehen, die Stimmen zu hören, die die Energiemantren der heiligen Sprachen singen. Das öffnet die Wirbelzentren des Körpers, des Verstandes und des höheren Geistes. Und die Absicht muss ausgerichtet sein, das Bewusstsein muss offen sein, um mit dem göttlichen Geist Kontakt aufzunehmen und zu erkennen, dass es ein höheres kosmisches Potenzial gibt, das wir einsetzen können, um all diese negativen Szenarien, denen wir gegenüberstehen, zu lösen. Wir können das als Gelegenheit betrachten, die Tür zum nächsten evolutionären Prozess zu öffnen, anstatt die Tür vor unserem eigenen Evolutionsprozess zu verschliessen. Für mich geschieht das durch die tägliche Meditation und das Singen der heiligen Namen Gottes zusammen mit der Visualisation der Einheit der Menschheit. Das löst einen Prozess des Erwachens und der Freude in mir aus. Es ist eine Art Erkenntnis, dass Bewusstsein ein göttliches Geschenk ist, durch das wir uns von den negativen Gedankenformen auf diesem Planeten wirklich unterscheiden.


Welches sind die Ressourcen, die uns helfen, sicher durch das uns bevorstehende „Nadelöhr“ hindurchzugehen?

Die erhabene Wissenschaft der östlichen Akupunktur zeigt, dass die Nadel, die in den Zeh gesteckt wird, mit dem Biofeedback-Mechanismus des Gehirns gekoppelt ist. In Paraphrase zum neutestamentarischen Gleichnis vom Nadelöhr und nun bezogen auf den chinesischen Sutrentext über die Akupunktur, könnte man sagen, dass die Nadel von unserem inneren Auge gewählt werden muss. Unser drittes Auge erkennt mit der Erweiterung des Bewusstseins, dass das ganze Leben Schwingung ist und dass das Bewusstsein des Lebens die unsichtbaren Energiefelder verarbeiten kann, die hinter der materiellen Welt stehen. Physikalische Materie ist lediglich Licht, das in der Gravitation „gefangen“ ist. Sobald wir in der Lage sind, höhere Bewusstseinszustände einzusetzen, kommt es zur Fähigkeit der Bewusstseinsexpansion, der Geistesexpansion, die es uns erlaubt, am kleinsten Massstab und an der größten Ausdehnung Anteil zu haben. Die Vibration des Protons, die innere Struktur des Gehirns und die Bewegung der Sterne befinden sich über die Obertöne oder Harmonien der Schöpfung in Wechselwirkung miteinander. Die Stabilität dieser kosmischen Konstellationen kann zur Gravitationswellenkommunikation eingesetzt werden. Das ist die Basis einer ganz neuen Wissenschaft, die auf den grossen deutschen Physiker Hartmut Müller zurückgeht, der jetzt in Zusammenarbeit mit der Russischen Akademie der Wissenschaften, Sankt Petersburg, beweist, dass die Gravitationswelle Auslösemechanismus für „Sofort-Kommunikation“ zwischen lebenden, denkenden Intelligenzen auf unterschiedlichen Ebenen im Universum sein kann. Genau darüber habe ich 1973 in den Schlüsseln des Enoch® geschrieben.

Wir stehen an einem unglaublichen Wendepunkt in der Geschichte, wo wir in der wissenschaftlichen Methodik über Einstein hinausgehen und erkennen werden, dass Erfahrung wichtiger ist als empirische Wissenschaft. Es wird mehr und mehr Leute geben, die höhere Bewusstseinserfahrungen machen. Und damit werden die restriktiven Regeln der Wissenschaft neu geschrieben werden. Genauso werden sich die restriktiven religiösen Ideale in höheren Lichterfahrungen auflösen, die für jedes Individuum zur Wirklichkeit werden. Die Arbeit der Akademie der Wissenschaften der Zukunft liegt darin, einen tieferen Dialog zwischen Wissenschaft und Spiritualität über die Zukunft aufrechtzuerhalten, wodurch die Menschheit auf eine Begegnung „von Angesicht zu Angesicht“ mit den kosmischen Intelligenzen vorbereitet wird, welche ich ultraterrestrische Intelligenzen nenne: reale, unterscheidbare Intelligenzen, die in den alten Texten Avatare genannt werden und die wir heute die kosmischen Unterweiser nennen könnten, die bereitstehen, uns zu helfen, wenn wir die Tore von Schulhaus „Erde“ öffnen werden. Ironischerweise gelingt uns das nur, wenn wir vor Problemen stehen, die uns aus dem Schlaf rütteln. Darüber hat sich schon Aldeous Huxley klagend geäussert, als er einmal in Sankt Moritz sagte, dass der Großteil der Menschheit im Bewusstsein eingeschlafen ist, Bewusstsein nur tröpfchenweise durchdringt, wo es doch ein grösseres Erwachen brauchte. Es scheint ironisch, dass es gerade diese Krise, die Zerstörung der Natur und von Mutter Erde sein muss, die uns diese Lektion erteilt. Die Krise kann uns letztlich in ein neues Zeitalter führen, ein Zeitalter der Wunder, an das ich tatsächlich glaube, wenn die richtigen Gedanken und Energien zusammenkommen. Das Geheimnis besteht nicht nur in einem Weg, sondern in vielen Wegen. Es ist die große philosophische Frage des „Vielen“ und des „Einen“, von Geist und Körper, von Ost oder West. Die Antwort lautet: Wir brauchen beide Hände Gottes, das Viele und das Eine, wodurch das Individuum erwacht und das kollektive Potenzial begreift. Wenn die menschliche Rasse erwacht, ihren göttlichen Funken erfasst, dann wird sich die göttliche Hierarchie oder Holarchie mitten unter den Menschen offenbaren. Denn die menschliche Schöpfung ist Teil der Hierarchie und muss jetzt den nächsten Schritt auf der kosmischen Leiter erklimmen und das erkennen, was ich in den Schlüsseln des Enoch® die „höhere Evolution“ nenne. Wir sind diesen kosmischen Veränderungen so nahe, und es gibt mir solche Freude und Kraft, auf der ganzen Erde zu arbeiten, ohne je auf die Uhr zu blicken. Durch Videodokumente z. B. haben wir die Konzepte des Lichtweges – von den Weisen und Mystikern des Westens Merkabah, im Osten Tathagata genannt – visuell darstellen können. Das Video zeigt, wie die multidimensionalen Kräfte des Geistes erweckt werden können, wie sich die Dreidimensionalität wie ein Lotus öffnet und man sieht, wie die größeren Dimensionen gleichzeitig interagieren. Diese innere Aktivität des dritten Auges, das Erwecken des dritten Auges gleichzeitig mit dem Bewusstsein der Dritten Welt, ist nun durch moderne Grafiktechniken, hochauflösende Multimedien und durch die Lehren jener Sozialdenker und Psychologen möglich geworden, die die Menschheit als eins erleben, als Homo universalis.


INTERVIEW MIT CLAUS EURICH ZUM THEMA GLOBALES BEWUSSTSEIN hinauf
© by SEBIL-Verlag 2003

Während der Monate Februar/März 2002 interviewte ich Claus Eurich zum Thema: Bewusstseinsentwicklung / Globales Bewusstsein.
Wir führten das Gespräch per Internet, weil wir keine Gelegenheit fanden, uns zu treffen. Der ungewohnte Weg der Gesprächsführung war einfacher und leichter, als wir es uns vorgestellt hatten.
Prof. Dr. Claus Eurich, geb. 1950, lebt in Dortmund, ist Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft, Autor mehrerer gesellschaftlicher und spiritueller Bücher und Meditationsbegleiter.
Das Interview führte Werner Binder.

Literatur-Tips: Claus Eurich: "Die Kraft der Sehnsucht", "die Kraft der Friedfertigkeit"

INTERVIEW

W.B. Claus, als Professor für Kommunikation und Journalistik erforschst du die weltweiten Auswirkungen der neuesten Technologien im Bereich der Medien. Daneben engagierst du dich als Autor und Meditationsbegleiter für eine offene, kontemplative Spiritualität, welche die Einheit und Integrität der Schöpfung nie aus den Augen verlierst.
Bitte nenne mir diejenigen Themen- und Problemkreise, die dich besonders berühren und beschäftigen.

C.E. In Erinnerung des 11. Septembers 2001und den kriegerischen Folgen berührt mich gegenwärtig das ungebrochen Gewalthafte in der menschlichen Daseinsweise sicherlich sehr - und hierbei vor allem die Einsicht, dass noch immer das archaische Vergeltungsdenken selbst bedeutende Facetten der Weltpolitik bestimmen kann, ohne dass es zu nennenswerten Infragestellungen käme. Dabei wissen wir doch seit den Kindertagen der Menschheitsgeschichte, dass dieses Denken und die daraus folgende Praxis und immer ins Desaster geführt hat und vor allem die menschliche Bewusstseinsentwicklung insgesamt blockiert, ja zurückwirft. Als Kommunikationswissenschaftler ist dabei für mich von Belang, welchen Anteil die Massenmedien an der direkten und indirekten Legitimation von Gewalt in der Politik haben, ja inwieweit sie selbst durch ihre Berichterstattung Teil der Gewalt auf dieser Erde sind. In der Folge konfrontiere ich mich selbstredend mit der Frage, welcher Entwicklungsschritte es bedarf, um diese Spirale des Verderbens zu überwinden und im personalen Mikrokosmos, dem sozialen Mikrokosmos, dem sozialen Mesokosmos und dem globalen Makrokosmos zur Haltung der Friedfertigkeit und der Versöhnung aufzusteigen. Entscheidend ist dabei für mich, dass diese Haltung sich auf alles Leben bezieht und wahrhaft holistisch die anthropozentrische Falle hinter sich lässt.

W. B. Du hast gesagt, dass das momentane Vergeltungsdenken massgeblich das weltpolitische Geschehen bestimme, ohne dass es nennenswert in Frage gestellt würde. Ich teile diese Wahrnehmung.
Die Friedensbewegungen sind leise geworden, ja, sie sind fast verstummt. Kraftvoller, konstruktiver Widerstand artikuliert sich nur vereinzelt. Weshalb? - und: gibt es Anzeichen, dass die "Stimmen der Erde" (wieder) Gehör finden? (1)

1: Die vergangene Zeit zeigt eindrücklich das Wiedererwachen der Friedensbewegung.
Du fragst dich, welcher Entwicklungsschritte es bedürfe, um die Spirale des Verderbens zu überwinden. Bitte erläutere deine diesbezüglichen Gedanken und Visionen.

C. E. Die grossen Friedensbewegungen der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurzelten vor allem noch in der Polarität von Ost und West, in dem Rüstungswettlauf zweier sich unversöhnlich gegenüberstehenden Systeme und in der realen Atomkriegsbedrohung. Das Erodieren und der schliessliche Zerfall der staatssozialistischen Systeme in Europa haben zu einer völlig neuen Situation geführt. Die Feindbilder haben sich verschoben; die grossen Kriegsbedrohungen hier sind einer Situation gewichen, in der im wesentlichen eine Supermacht - die USA - sich zum im Wesentlichen unkontrollierten und unkontrollierbaren Weltpolizisten aufgeschwungen hat, der hier und da als Hegemon eingreift, von seinen Nato-Satelliten unterstützt. Schon im Golfkrieg 1991 war der Widerstand der Bewegungen schwach, im Kosovo-Krieg und Serbienfeldzug kaum noch zu spüren. Dabei spielt sicherlich auch eine Rolle, dass mittlerweile auch linke und grüne Kreise diese Politik unterstützen, ja in Regierungsgewalt mitverantworten. Eine gewisse Resignation und eine junge Generation, die unter anderem aus Ernüchterung über die herrschende Politik sich anderen Fragen zuwendet, mögen hinzukommen. Zugleich ist das globale Feld der Bedrohungen ungleich komplexer geworden, kann nicht mehr auf die alte Frage von Krieg und Frieden reduziert werden in einer Epoche, in der sichtbar wird, dass wir alle einen Krieg gegen die Erde und das Leben an sich führen. Auch das brüchig werden der Wohlstands- und Sicherheitsfassaden unserer Kultur spielen eine Rolle in dieser Zeit der Suche nach neuer Orientierung. Vielleicht wird es wieder "Bewegungen" geben. Vielleicht auch nicht in absehbarer Zukunft. Ich halte das für nicht so entscheidend. Denn jede politische Bewegung hat nur eine dauerhafte Chance auf Veränderung der Welt, wenn sie von einer Veränderung der Herzen getragen ist und sich nicht im Politischen erschöpft. Das Politische der Zukunft auf allen Ebenen wird, wenn es zukunftstauglich im besten Sinne sein soll, der spirituellen Rückbindung bedürfen. Der mystische Weltzugang wird sich dann mit seiner Einsicht in das Einssein allen Lebens als politisch in höchstem Masse erweisen.
Was uns dort hinführt?
Ich greife zwei zusammenhängende zentrale Aspekte heraus:
Das Nicht-Anhaften und Loslassen bezüglich aller Gedankenkonstruktionen, Ideologien und Urteile, die Befreiung von der Macht der Verdinglichung und des Habens auf allen - auch geistigen - Ebenen. Hinzu kommt die Überwindung des trennenden Denkens und Empfindens und damit der Abgrenzung, die wir auf allen Ebenen des Seins vornehmen...Mensch - Mensch; Familie - Familie; Nation - Nation; Kultur - Kultur; Mensch - anderes Leben. In der Absolutsetzung von Individuum und jeweils seinen Lebenskontexten auch im sozialen, kulturellen und staatlichen Bereich wurzelt die Notwendigkeit der "Verteidigung" der damit verbundenen Interessen und damit im Fortschritt die nach "Aussen" gerichtete Gewalt. Zugleich liegt hier der unachtsame und mörderische Umgang mit allem nichtmenschlichen Leben und den sogenannten "niederen" Seinsformen begründet. Wenn die Menschen beginnen, im Herzen zu verstehen und im Geist zu sehen, dass der grosse kosmische Prozess der Hervorbringung von Leben eins in der Unterschiedlichkeit ist und daraus Ehrfurcht, Achtsamkeit, Demut und unbedingter Respekt gegenüber der Würde allen Lebens erwächst...dann stehen wir an der nächsten Stufe der Menschheitsentwicklung. Dann werden wir dem gerecht, was wir sind, nämlich zum Bewusstsein ihrer selbst gekommenen Evolution bzw. Schöpfung. Dann können die Waffen beginnen zu schweigen, und die Tore der Schlachthöfe werden verschlossen sein. Vermutlich aber werden wir noch dramatische Schritte des Scheiterns unserer Gattung und der Vernichtung anderer Lebensformen erfahren und hinnehmen müssen, bevor wir diese Entwicklungsstufe erreichen. Trotzdem... Auch hier gilt das Hindurch! Allerdings werden wir Hindurch nur kommen, wenn wir wissen, wohin wir wollen

W. B. Welche eher hintergründigen, vorbewussten Bewegungen des menschlichen Bewusstseins erahnst du?

C. E. Das menschliche Bewusstsein ist ein Netzknoten im unermesslichen Netz des kosmischen Bewusstseins auf all seinen Ebenen. Wir stehen - zumeist unbewusst - mit zahlreichen Feldern dieses Netzwerkes in Verbindung. Diese Verbindungen reichen von der Erscheinung der sichtbaren Welt, über die Dimensionen des Geistigen bis hin zum Vorraum dessen, was wir das Göttliche nennen. Unserer grundlegenden Beschränkung, dass wir nahezu alles durch den Filter des Psychischen wahrnehmen, stehen die Gabe/Gnade der Intuition gegenüber sowie Erfahrungen, die meditativer/kontemplativer Praxis entspringen. Zu den ausserordentlichen Bewusstseinserscheinungen zähle ich zudem manche Träume, die nicht im Psychischen wurzeln, sondern in denen wir angesprochen und berührt werden. Die Alten sprachen von solchen Träumen als "Gottes vergessene Sprache". Für mich ist es existentiell in tieferem Sinne, mit all diesen Wahrnehmungsweisen in Verbindung zu bleiben und das meinige zu tun, die dazu notwendigen Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Ich gestehe, dass herausragende Träume und meditative Erfahrungen meine Schritte in den vergangenen Jahren entscheidend mitbestimmt bzw. angestossen haben.

W. B. Du hast von jenen Träumen gesprochen, die von den Alten als "Gottes vergessene Sprache" bezeichnet worden sind.
Bitte sage und assoziiere mehr darüber. Wie können wir Menschen uns dieser Sprache wieder erinnern?

C E. Ich möchte hierzu nicht viel sagen, denn vieles entzieht sich bezüglich von Träumen der Sagbarkeit. Und nicht ist verheerender als Traumerfahrungen zu zerreden oder psychologisch kaputt zu sezieren. Wer diese Berührung erfährt, wird sie wahrnehmen. Und sie wird Folgen haben, früher oder später. Hilfreich allerdings kann ein Mensch sein, der uns vertraut ist und in Lebensphasen begleitet, der vielleicht Dinge sieht, die wir noch nicht erkennen können. Ansonsten gilt: Sei achtsam, alles spricht zu Dir, das Sein ist Sprache in all seinen Erscheinungsformen, und alles ist Wirklichkeit - auch die sogenannten Träume. Diese Haltung der Achtsamkeit können wir fördern - vor allem durch den Schulungsweg der Kontemplation.

W. B. Welche Bilder tauchen vor deinem inneren Auge auf, wenn du das Wort "Menschheit" auf dich wirken lässt?
Du sprachst davon, dass sich die nächste Stufe der Menschheits-Entwicklung durch Respekt charakterisiere und durch das Bewusstsein der Einheit in der Unterschiedlichkeit. - Wie verstehst du die jetzige Entwicklungsstufe und wie bezeichnest du sie?

C. E. Lass mich ein Bild wählen, das ich auch gelegentlich meditiere: Ich stehe in der Kanzel eines Raumschiffes, das sich langsam der Erde nähert. Majestätisch schwebt der blaue Trabant durch das All, ein wunderbares Lebewesen. Dann sehen wir tiefblaue Wasser, weisse Wolken, die hohe Berggipfel umspielen, braune und grüne Landflächen. Im Näherkommen wandelt sich das Bild. Die Gewässer werden grau, Dunst hängt über riesigen Metropolen, das Land ist zerschnitten und fast durchgängig zersiedelt. Und immer wieder Funkenschlag. Die, die hier leben, führen Krieg; Krieg gegen sich selbst und Mutter Erde. Ich begegne Menschen, viele bleiben mir fremd, manche faszinieren durch ihren Geist, andere durch ihr ganzes Wesen und ihre ganze Erscheinung. Und ich spüre ihre Liebe, eine unglaubliche Kraft. Menschheit - das ist nichts Einheitliches. Da gibt es keine Gleichheit, da lebt Vision neben Abstumpfung, Ignoranz neben höchster Erkenntnis, Dummheit neben Achtsamkeit, integrales Bewusstsein, neben archaischem Verkennen... und all das sogar gelegentlich in einer Person. Menschheit - da scheint sich eine Spezies noch inmitten eines evolutionären Prozesses zu befinden. Vergleichen wir diesen Prozess einmal mit der Ontogenese einer Person, so kann man - bei aller Unschärfe der Analogie - sagen: Wir leben im Übergang zwischen spätpubertärer Phase, in der Identität sich noch durch Abgrenzung bilden muss und beginnender Reife. Diese Phase hat etwas Faszinierendes, alles ist in ihr möglich, allerdings auch der Globozid. Im Schatten aller Möglichkeiten, die wir erkennen und allen Grenzen, die wir überwinden, lauern immer auch das Scheitern und der Abgrund.

W. B. In meinem Umfeld arbeiten viele Menschen an Projekten, die eine ganzheitliche Schau der Welt als Grundlage haben. Viele streben die Bildung holistischer Gemeinschaften an, andere versuchen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit Aufbauarbeit zu leisten. Viele Projekte scheitern. Einerseits erkenne ich, dass Kränkungen und eine mangelnde Auseinandersetzungsfähigkeit Teil-Ursache solcher Einbrüche sind; bei vielen ProjektträgerInnen beobachte ich Ermüdungs- und Erschöpfungsgefühle bis hin zu psychischen Zusammenbrüchen, die eine Weiterführung des begonnenen Weges erschweren oder verunmöglichen. In anderen gesellschaftlichen Bereichen erlebe ich ähnliche Phänomene.
Wie erklärst du dir diese Beobachtungen - und welche Rolle und Bedeutung misst du dem Scheitern bei?

C. E. Wir haben es hier mit einem Feld hochkomplexer Wechselbeziehungen zu tun, der Gleichzeitigkeit von ganz Unterschiedlichem. Das ist ja DAS Problem, das Psychisches, Soziales, Gesellschaftliches, Strukturelles und Spirituelles zusammenwirken und in konkreten Situationen Schwierigkeiten potenzieren, die wir dann nicht mehr aushalten können oder wollen in unserer Endlichkeit. Vor allem aber bringt bei allen Aufbrüchen und Projekten doch jeder zunächst sich selber mit... mit den Gewohnheiten, den Erwartungen, den Träumen, Hoffnungen und Ängsten und dann eben oft der fehlenden Übung bzw. Bereitschaft, davon etwas loszulassen. So sind Ohnmachtsgefühle und Erfahrungen des Scheiterns vorprogrammiert.
Das muss man jedoch nicht nur negativ sehen. Ohnmacht ist für mich durchaus ein positiver Begriff. Ohne Macht sein, ist das nicht zutiefst jesuanisch? In der Ohnmacht erkenne ich meine Grenzen und wenn ich diese annehme, kann ich an ihnen arbeiten bzw. zu anderen Wegen und Lösungsmöglichkeiten geführt werden. So auch das Scheitern. Leben heisst Scheitern. Scheitern geht der Entwicklung voraus, Scheitern heilt vor dem Allmachtswahn und macht empfindsam für die Windungen des Lebens. Nur wer die Erfahrung des Scheiterns kennt und wie die Ohnmacht angenommen hat, ist zu wirklichen Wachstumsschritten in der Lage; und auch nur er kann denen helfen bzw. an ihrer Heilung mitwirken, der die Erfahrung des Scheiterns gerade durchlebt. Scheitern durchbricht festgefahrene Routinen, es befreit aus der Täuschung eines Seins in Sicherheit und letzter Planbarkeit. Das Problem also liegt nicht im Scheitern an sich, sondern wie ich damit umgehe. Scheitern wird erst dann destruktiv, wenn es zur Resignation und/oder in die Depression führt.
Nichts kann uns vor dem Scheitern bewahren...auch das lehrt uns der Weg des Mannes aus Nazareth. Entscheidend ist immer, wie wir rückgebunden sind, spirituell getragen im Heimatraum des Göttlichen. Nach meiner Erfahrung haben auch Projekte, die sich nicht in dieser Rückbindung beheimatet fühlen, auf Dauer keine Chance. Weil sie bei den immer wieder auftauchenden Konflikten und Schwierigkeiten kein letztes Gemeinsames haben, an dem man sich wieder aufrichten kann...das, was uns unendlich übersteigt und uns in allem ins Verhältnis setzt...das, was wir das Göttliche, das Absolute, die letzte Freiheit nennen und worauf bezogen wir uns hüten sollten, es zu definieren, damit nicht die Definition bereits wieder im Keim des Missverständnisses und der Abgrenzung von anderen Definitionen in sich trägt. Die Beheimatung in diesem spirituellen "Raum" schenkt denen, die an der Verwirklichung von Visionen arbeiten vielleicht auch die notwendige Gelassenheit und Distanz, die darin liegt, dass wir die Früchte unseres Tuns doch nicht immer auch noch selber ernten müssen - so schön das unbestritten ist..

W.B. Ich möchte jetzt einen Themenkomplex ansprechen, der mir in der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins als sehr wesentlich vorkommt:
unsere Beziehung zur materiellen, körperhaften Welt. Einerseits behandeln wir Materie als seelenlose, verfüg- und manipulierbare Masse, die es optimal zu nützen gilt (Kontrolle gegen Scheitern und Versehrtheit), andererseits erleben Menschen vermehrt, dass nicht nur ihr Körper, sondern auch der Körper der Erde (und aller Geschöpfe) beseelt und durchgeistigt ist. Daraus folgt ein einfühlsameres und behutsames Verhalten dem Geschaffenen gegenüber.
Beide Haltungen sind gleichzeitig in aller Deutlichkeit, oft in derselben Person und in demselben Volk wirksam, obwohl die beiden Positionen meiner Meinung nach unvereinbar sind. Das erzeugt Spannung. Hieraus die Fragen:
Was bewirkt diese Spannung? Wie kann sie überwunden werden?
Welche Auswirkungen und Entwicklungen könnte eine tiefere Beziehung des Menschen zur organischen und nicht-organischen Welt haben?
Was würde geschehen, wenn sich die strikte Abgrenzung zwischen Geist und Materie in unseren Köpfen aufweichen würde?

C. E. Auf diesen Fragenkomplex kann ich dir keine klare und eindeutige Antwort geben, ohne zu spekulieren. Und das möchte ich nicht. Deshalb nur soviel...
Es gab einen Übergang, einen qualitativen Sprung in der Evolution, den ich festmache an der Bewusstwerdung des Geistes bezogen auf sich selbst. Es war zugleich der Übergang, in dem die Schöpfung begann, sich ihrer selbst im und durch den Menschen bewusst zu werden. Diese Bewusstwerdung ging einher mit der geistig vollzogenen Trennung von anderen, weniger bewussten Teilen des Erden- und des Erfahrungsganzen. Obwohl der Mensch in der wechselseitigen Verbundenheit mit allem Leben und allem Sein im Kosmos blieb, begann er, auf sich selbst bezogen und sich selbst absolut setzend seine eigenen Wege zu gehen. Und er begann zu urteilen, zu klassifizieren, zuzuordnen, in Hierarchien zu denken und entsprechend zu handeln. Ich glaube, das gehört zu unserer Entwicklung hinzu, es war ein notwendiger Schritt. Er war notwendig, um Leben und Sein differenzierter zu sehen und zu betrachten als dies in manchen naiven Bildern von der Erde als einem grossen Lebewesen geschieht. Erst von dem differenzierten Blick auf Leben, der uns u.a auch durch die Wissenschaft ermöglicht wird, her, können wir nun erfahren und lernen, das Ganze in seinen Zusammenhängen zu sehen, ohne dabei die Vielfalt und die Besonderheiten aus den Augen zu verlieren. Jetzt sind wir am Übergang zu einer Entwicklungsstufe, wo wir über die Erkenntnis der Vernetzung des Unterschiedlichen zu einem neuen Weltbild gelangen können, in dem das Anderssein nicht nivelliert, sondern in eine Holarchie integriert ist. Diese Erkenntnis auch kann viele Menschen vom Geist her, der einst trennte und spaltete, nun zur Erfahrung, zum Erspüren des Ganzen und seiner Teile führen. Dabei wird die Menschheit erkennen, dass die herausragenden Fähigkeiten, über die sie verfügt, sie in eine ausserordentliche Verantwortung führt. Aber es bleiben Differenzen und Unterschiedlichkeiten. Ein Mensch ist kein Stein, eine Blume kein Delphin und Wasser kein Uran. Ich scheue mich davor, von einer Vergeistigung aller belebten und unbelebten Existensformen zu sprechen. Dazu müsste zuerst der Begriff des Geistes neu geklärt werden, und ich glaube dazu verfügen wir einfach noch nicht über genug Wissen, genug Intuition, genug Einfühlungskraft und vor allem hinreichend Freiheit von Täuschungen und Projektionen.
Ich sehe einen Impuls des Werdens und der Vollendung im Ganzen wirken, der auch dem Ganzen seine Form und seine Dynamik verliehen hat. Wird Vergeistigung so verstanden...dann könnte man beginnen, sich darüber zu unterhalten und auch entsprechend weiter zu forschen - auf allen Ebenen: Vom theoretischen Physiker bis zum Geomanten, von der Biologin bis zum Schamanen, vom Schulmediziner bis zur Naturheilkundlerin, vom Philosophen bis zum spirituellen "Meister" etc. Entscheidend wäre, endlich auch all diese Zugänge diskriminierungsfrei zu integrieren und als holarchische Schau weiterzuentwickeln. Sehr viel wäre bereits gewonnen, wenn über diesen Prozess, die Achtsamkeit wüchse und eine demütige Haltung gegenüber allen Existenzformen, zumindest aber die kognitive Einsicht, dass alles seinen Platz und seine Berechtigung hat... und dass es Stellen und Knoten im Netzwerk des Lebens gibt, wo der Mensch nichts verloren und nichts zu suchen hat.
Es ist ein weiter Weg bis dahin, vielleicht sogar zu weit für unsere Spezies, die der Dynamik der Kolonisation und der Zerstörung keine adäquate Entwicklung des Geistigen und Seelischen folgen lässt. Auch zu dieser Entwicklung wird uns im erforderlichen grossen Massstab wohl erst das Scheitern führen, womöglich sogar das Scheitern dieser Rasse. Kosmisch betrachtet, kann man das unsentimental sehen, denn es wird eine andere, die aus uns hervorgehet, folgen. Ruinen haben eine doppelte Symbolik - die der Vernichtung und Endlichkeit... gleichzeitig aber kann man durch sie hindurch bereits das Neue ahnen, das der Zerstörung des Alten bedurfte.

W B. Wenn ich mir das bisherige Gespräch vor Augen führe, fällt mir auf, dass du oftmals die Bedeutung von Respekt und Demut unterstreichst und auf die Achtung vor dem Nicht-Wissen (dem Geheimnis) hinweist. Bitte erkläre und verdeutlich, warum dir dieser Aspekt so wichtig ist.

C. E. Wir sind nicht umfassend Wissende, sondern - begrenzt wissend - Ahnende, allerdings auf einem sich steigernden Niveau. Was wir wissen und zu wissen glauben, entspringt der Standortgebundenheit der Perspektive(n), die wir einzunehmen in der Lage sind und der Möglichkeit/Grenzen unserer Wahrnehmungsorgane sowie der Methoden/Verfahren, mit denen wir uns "Welt" zuwenden. Wechselnde Positionierungen, Reflexivität hinsichtlich unserer Weltzugänge (alltagsweltlich und wissenschaftlich), methodische Vielfalt sowie Verfeinerung unserer Möglichkeiten zu einer achtsam und bewusst haltenden Empathie können unsere An- und Einsichten vertiefen und verfeinern. Doch immer bleiben Unklarheiten, nicht Erkennbares, blinde Flecken. Ich kann das Sein nicht wie mein Menschenbruder empfinden und schon gar nicht wie ein Baum, ein Maulwurf, ein Adler oder ein Wal. Schon allein diese Begrenztheit, die unserem Menschengeschlecht sowie allen Geschöpfen eigen ist, gebietet mir Respekt vor dem Anderen, wünscht sich von mir, nicht zu urteilen, wo ich im letzten doch nur auf mich selbst/meine Gattung bezogen urteilen kann. Hinzu tritt die unbedingte Achtung vor dem Wunder des Lebens und der Grossartigkeit der Schöpfung. Wie kann ich anders, als in Staunen und auch in Demut mich in diesen Prozess eingebunden zu sehen. Demut auch, weil mein begrenzter Erkenntniszugang sich doch fast vollständig auf die sichtbare Welt beschränkt. Um Erfahrungen im Kontakt mit der unsichtbaren und der geistigen Welt kann ich mich bemühen - doch der Rest ist Gnade. Im Respekt respektiere ich, was meine Endlichkeit übersteigt; in der Demut nehme ich die uns Menschen so naheliegende Selbstüberschätzung und Hybris im Rahmen meiner Möglichkeiten zurück. Respekt und Demut sind die Eltern der Friedfertigkeit.

W. B. Du sagtest, dass du im Ganzen einen Impuls des Werdens und der Vollendung erkennen würdest. Das bringt mich auf die Frage, wie dieser ganz-machende, heilende Impuls in Verbindung steht mit dem Verwundeten auf dieser Erde.
Wie kann der Mensch selbst heiler, vollständiger werden und an der globalen Entfaltung des Lebens mitwirken?

C. E. Verwundung und Heilung/Ganzwerdung können wir nicht trennen, gemäss der Heilungsmaxime, dass das, was dich verwundet hat, auch Bestandteil deiner Heilung ist. Zugleich weist uns jede Verwundung, die wir auf dieser Erde verursacht haben, auf unsere Heilungserfordernisse und Heilungsmöglichkeiten hin. Dazu müssen wir jedoch lernen durch das Verwundetsein hindurchzuschauen und in der Symbolik der Wunde das Durchscheinende Neue zu sehen. Nehmen wir als Beispiel die Symbolik der Ruine, etwa die der in sich zusammengestürzten Zwillingstürme in Manhattan. Man kann, was hier geschehen ist, sehen wie dies die herrschende amerikanische Politik tut und dem geschändeten Boden den Namen "Ground Zero" geben. Ground Zero steht für die Stellen auf der Erde, die durch atomare Explosionen oder atomare Lagerungen atomarer/chemischer/biologischer Kampfstoffe für menschliches Leben verseucht sind. Das ist eine unerbittliche und blinde Sicht. Man kann allerdings auch durch den Schmerz hindurch die Ruine als den Vorboten des möglichen Neuen sehen, ja - in gewissem Sinne - als das dem Neuen in manchen Phasen der Geschichte notwendig vorausgehende. Ein nicht nur dem Leid des Moments und der Vergeltung verhafteter Blick sähe die Chance für die Menschheit, die in der Umkehr liegt. Auf den Gegner zugehen, denn der steht über die konkrete Person hinaus auch für Felder der Verwundungen, die einer bestimmten Politik geschuldet sind... erkennen, dass es so in der Politik nicht weitergeht - und wenn Globalisierung nicht "Globalisierung der Verwundbarkeit" heissen soll- das erfordert, umfassend umzusteuern...aufhören, eine babelhafte Architektur zu kultivieren, die in hunderten von Stockwerken zigtausende von Menschen auf- und ineinanderstapelt und die neben einer aufgesetzten Demonstration von Macht doch nur eines ausstrahlt: Anfälligkeit!
Alles ist vieldeutig. Das zu sehen und dem Vieldeutigen nachzuspüren, baut Verwundungen vor und es erleichtert Heilungsprozesse, wenn Wunden geschlagen worden sind. Selbstredend gilt dies auch für die Wunden in unserer Nahumwelt, die Verletzungen an unserem eigenen Körper und unserer eigenen Seele.
Ich möchte allerdings nicht verhehlen, dass es immer auch Verletzungen geben wird, aus denen sich kein Sinn ableiten lässt, die uns unbegreifbar bleiben, hinter denen sich keine tiefere Symbolik erschliesst und die oft auch nicht heilbar sind... zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau unserer Kultur.

W. B. Statt einer "Globalisierung der Verwundbarkeit" und der Ungerechtigkeit, so könnte man hinzufügen; wie sähe eine menschliche Globalisierung aus, die auch allen anderen Geschöpfen gerecht würde?

C. E. Ich sehe auf dem gegenwärtigen Entwicklungsniveau de Menschheit eine solche Globalisierung nicht. Nicht als Möglichkeit, die einen Kern von Realismus in sich trüge. Denn eine solche Globalisierung erfordert Quantensprünge in politischer, ökonomischer und vor allem spiritueller Hinsicht. Davor aber liegen noch gewaltige Krisen, menschgemacht und mit der Gefahr der Selbstenthauptung unserer Spezies. Wir lernen als Gattung insgesamt nur dadurch, dass wir durch die Missachtung unserer Grenzen und der Lebensgesetze dieser Erde scheitern. Ich empfände es als zynisch, dieser wohl notwendigen Dialektik ein gleichsam prophetisch-paradiesisches Szenario gegenüberzustellen. Sicher, ich habe meine Träume von einer etwas heileren Erde, mit Schutzräumen für alle Lebensformen, weniger Menschen und einem achtsamen Umgang miteinander. Was aber zählt, ist das, was wir jetzt tun. Die Zukunft - das ist jetzt. Die Verantwortung für das Ganze - wir tragen sie jetzt. Das Neue - wir bauen es jetzt oder es wird nicht gebaut. Wer Augen hat, kann sehen, wer Ohren hat, kann hören, wer eine Seele hat, kann mitempfinden, wer eine Herz hat, kann lieben, wer einen Hintern hat, kann meditieren und wer einen Kopf hat, sollte endlich anfangen zu denken. Fast alles ist entschuldbar, selbstverschuldete Ignoranz, Dummheit und Trägheit sind es nicht.

Das ist eine etwas resignative Grundhaltung, sagt da jemand? Nein, das glaube ich nicht. Es ist vielleicht eine etwas realistische Grundhaltung, die dem entspricht, was ich so bemerke, wenn ich mich umschaue auf der Erde. Und unabhängig von allem Realismus bleibt die Hoffnung, die tätige Hoffnung, und das grosse Trotzdem...Denn das sollte wohl noch gesagt werden: Wir sind ja nicht allein!


                                  Interview mit Gil Ducommun hinauf
Wir sitzen im Büro der Schweizerischen Hochschule für Landwirtschaft im Kanton Bern. Wir kennen uns schon lange und sind beide bewegt über die Geschehnisse unsere Zeit.

Was bewegt und berührt Dich, wenn Du die Augen über unsere Erde wandern läßt - einerseits als jemand, der in dieser reichen Schweiz arbeitet, aber anderseits auch als einer, der in Entwicklungsländern tätig ist.

Ich gehe zu den Ereignissen zurück, die das ausgelöst haben, was ich heute mache. Das geschah im Alter von 14/15 Jahren. Zu der Zeit hat mich die Welt schockiert. Ich war sehr betroffen vom Zustand der Entwicklungsländer. Das war Ende der 50-er Jahre. Was ich vorfand, sensibilisierte mich sehr. Ich beobachtete eine große Ungerechtigkeit in der Welt, große Armut. Aus diesem Grund entstand mein Interesse für Landwirtschaft, im Sinne der Welternährung. Ich wollte mich diesem Thema widmen, der Weltarmut und der Welternährung. Ich hatte große Mühe mit der Kirche, weil ich sie immer nahe bei den Machtzentren fand. Das machte mir zu schaffen. Ich war ein gläubiges Kind und konnte mich daher nirgends mehr zu Hause fühlen. Das war im Alter von 15/16 Jahren. Auslösend war eine starke Betroffenheit über die Armut, das Elend und die Ungerechtigkeit in der Welt. Ich suche seither seit 40 Jahren nach Wegen, wie man in diese Trennungen, in diese Kluft, welche die Welt dominiert, Heilung bringen kann. Das ist mein Hauptthema, aber die Betrachtung der Problematik hat sich in den vergangenen 40 Jahren bei mir sehr verändert. Das war der auslösende Moment, der noch heute wirkt. Ich bin überzeugt, daß wir in der Lage sind, eine bessere Gesellschaftsordnung aufzubauen, in der Ethik eine viel bedeutendere Rolle spielt als - sagen wir - Gewinnmaximierung. Ich bin sicher, daß wir das Primat der Politik und der Ethik wieder über das Primat der Wirtschaft installieren müssen, welche heute die Welt globalisiert und leitet und auch in den Parlamenten eigentlich die Hauptorientierung gibt. Die Konkurrenzfähigkeit der Länder und der Unternehmungen bestimmt das Denken heute weltweit. Es ist ein gravierender kultureller Irrtum, daß wir uns als Menschheit heute dem wirtschaftlichen Denken, der Konkurrenz und der Gewinnmaximierung unterstellt haben. Wir können doch nicht die ganze Forschung, die ganze Gentechnologie der Idee der Gewinnmaximierung unterstellen. Wir können doch die Forschung und die Technologien, die heute in den Labors und Instituten entwickelt werden, nicht nach privaten Interessen ausrichten, das geht nicht. Diese müssen unbedingt wieder einer politisch-ethischen Führung unterstellt werden. Das ist für mich heute ein ganz wichtiges Thema.

Wie sieht die Welt aus in Afrika, aus dem Blickwinkel der Ärmsten?

Meine vielen Reisen in die südlichen Länder, vor allem nach Kamerun und Burkina Faso, stacheln mich enorm an. Das tut weh. Wenn ich in Ouagadougou bin - das ist die Hauptstadt von Burkina Faso - dann kommen Jugendliche im Alter von 15 bis 30 auf mich zu und wollen mir irgend etwas verkaufen. Sie haben keine Arbeit, verkaufen Kassetten, Taschentücher, Ohrensticks oder handwerkliche Objekte. Andere sind Taxichauffeure. Und dann hat mir kürzlich einer gesagt, nachdem ich nichts kaufen wollte: "Ja, dürfen wir denn nicht leben?“ Ein anderer hat mir gesagt: „Wollt ihr uns denn nicht? Dürfen wir nicht leben wie ihr?“ Das sind sehr schmerzhafte Begegnungen. In den Städten sind es zwischen 20 und 30 % der Jugendlichen, die einfach herumstehen; sie gehen nicht mehr in die Schule, haben vielleicht 5 - 6 Jahre Schule hinter sich, keine berufliche Ausbildung. Sie streunen herum, wissen nicht, wovon leben und wozu leben. Sie haben keine Mittel für eine Heirat. Sie haben keine fixe Arbeit. Unzählige Kinder betteln, wollen Geld oder Nahrung. Man sieht invalide, ältere Menschen, von Kindern geführt; Blinde; eine unglaubliche Verlotterung. Also, das ist nicht Armut, das sind Zerfallsprozesse. Es gibt eine würdige Armut, wie z. B bei Indianern im Urwald, wenn dieser intakt ist. Sie leben - kann man sagen - materiell arm, aber sie sind würdevoll arm. Das, was ich in den Städten sehe, in Douala in Kamerun zum Beispiel, ist verheerend. Das tut weh, das ist grauenhaft. Und dann kommt noch die ökologische Zerstörung. Diese Städte sind vom Verkehr asfixiert. Die Luft ist schwanger von Abgasen, unglaublich, und all diese Leute leben auf der Straße. Diese Luft greift die Atemwege an, viel mehr als hier in der Schweiz. Hier ist die Luft auch nicht gesund; es gibt im Sommer viel zu viel Ozon. Aber dort ist die Luftverschmutzung ganz massiv. Bei meiner letzten Reise bekam ich deswegen eine Stirnhöhlenentzündung. Die ganze Abfall- und Abluftproblematik ist nicht gelöst.
Diese Länder stehen vor Problemen, die sie nicht lösen können. Die Beschäftigung für die Jugendlichen ist ungelöst. Diese haben Bilder und Weltbilder in sich, die vom Fernsehen erzeugt worden sind. Das sind diese amerikanischen und französischen Filme, einfach dummes Zeugs: Luxusleben; schöne Frauen; billiger Sex - die Frau als Objekt; Gewalt - der Gewalttätigere ist oft dann noch im Recht- also einfach Schund. Amoral wird da verbreitet. In Burkina Faso hat die nationale Kette diese Filme verboten - das ist gut - aber die Leute kaufen sich dann Video-Filme, und da dies wird den Kindern ab 3-4 Jahren angeboten. Von da her kommen die Bilder, die sie sich einverleibt haben: Bilder, wo die Welt glänzt. Auf der emotionellen und der Bauchebene bewegt das sehr viel: das Gefühl vom Reichtum und der Schönheit dieser Bilderwelt kosumieren zu können, Autos und Häuser zu besitzen, Ferien zu haben, usw. Und diese jungen Menschen kommen dann an uns heran und denken: die kommen aus dieser Welt, und ich möchte auch in diese Welt. Ich habe bei den Jugendlichen immer wieder aufkommende Wut gespürt. Sie meinen zu wissen, wie wir leben, machen sich ein falsches Bild davon - was die Filme zeigen, entspricht nicht der Realität unseres Alltags. Diese wird nicht gefilmt - also zum Beispiel Arbeiter auf dem Lande oder in der Fabrik. Darüber wissen sie nichts. Und dann kommt Wut, Ohnmacht, auch Gewaltbereitschaft hoch. Wenn die Afrikaner nicht sehr friedlich erzogen würden - sie werden ja 18 Monate auf dem Rücken der Mutter herumgetragen, in liebevoller Umarmung. Ich denke, daß sich dadurch mehr oder weniger ein liebevolles Gemüt entwickelt. Sonst gäbe es noch viel mehr Gewaltausbrüche, vor allem bei den Jugendlichen. Würden bei uns 20 - 30% der Jugendlichen aussichtslos leben müssen, entstünden Riesenkrawalle.

Aber ich möchte hier mal unterbrechen und dir beim Fragen zuhören.

Zurück zu Europa und unserer Kultur.
Ich habe den Eindruck, daß es sowohl Bewegungen von Menschen gibt, die von Elend und Ungerechtigkeit betroffen sind, aber auch von Hoffnung auf Erneuerung erfüllt sind , wie andererseits auch viele Menschen, die sich in einen privaten Winkel zurückziehen und sich mit dem eigenem Streß und dem eigenem Befinden beschäftigen. Und zwischen diesen beiden Polen erlebe ich eine Spannung. Ich weiß nicht, ob in absehbarer Zeit das innere Feuer wieder mehr zum Brennen kommt. Was denkst Du zu dieser Thematik, siehst Du das auch so? Welche Gedanken machst Du Dir dazu?

Es gibt diese Bewegung, die betroffen ist durch die Ungerechtigkeiten, die seit den 60-er Jahren intensiv arbeitet: in Dritt-Welt-Bewegungen, in sozialen Arbeitskreisen, in der Ökologie, in grünen Kreisen und solchen, die sich mit Energiefragen beschäftigen. Also es ist eine große Bewegung vorhanden. Es gibt auch Solidarität und finanzielle Unterstützung von Teilen der Schweizer Bevölkerung für die genannten Kreise und NGO's (nicht-staatliche Organisationen).

Es herrscht eine große Orientierungslosigkeit darüber, wie man global und in der Tiefe etwas ändern könnte. Es gab eine Zeitlang einen sozialistisch-kommunistischen Ansatz, der heute zum Tabu geworden ist. Er hatte auch seine Grenzen bewiesen, führte nicht zum Erfolg. Es war und ist ein sehr materialistischer Ansatz. Bei dieser ganzen Bewegung ist eine große Orientierungslosigkeit erkennbar. Ich meine, daß die Leute in diesen Bewegungen jetzt eine sehr sinnvolle Arbeit machen im Sinne der .. - es ist wie in einem Strom - da kann man kleine Korrektkuren machen oder man kann versuchen, den Strom zu verlangsamen oder ein wenig umzubiegen. Es ist aber nicht die Vorstellung eines ganz neuen Stroms dahinter. Man kann nur die Idee haben, daß es etwas ganz anderes braucht, wenn man einen Ansatz hat.

Diesen Ansatz zu entwickeln, ist die Aufgabe unserer Zeit. Das ist nicht ein reformerischer Ansatz, das ist ein liebevoll- revolutionärer Ansatz, der ganz neue Wege sucht, neue Synthesen, wo der materialistische Ansatz des Sozialismus und der materialistische Ansatz des Liberalismus überwunden werden. Persönlich bin ich überzeugt, daß es die Reintegration der spirituellen Dimension braucht, aber nicht auf der Ebene der mythologischen Weltsicht, die von -sagen wir - etwa 10'000 v. Chr. bis 1500 n.Chr. dominant war. Wir können nicht regredieren, das verhindert unsere Rationalität, die sich inzwischen voll entwickelt hat. Wir müssen also schauen, wie wir unser religiöses Gefühl und Bedürfnis auf einer Ebene leben, die nicht mehr mythologisch ist. Ich denke, die neue, jetzt stimmige Ebene ist die der Mystik. Das meint: ich lese nicht mehr Dogmas, übernehme die Wahrheit nicht mehr primär aus Büchern oder von Menschen, obwohl das helfen kann, sondern arbeite im Wesentlichen an der Öffnung eines Innenraumes, wo ich die Erfahrung des Göttlichen, also des Transzendenten, mache. Ich mache selber einen spirituellen Weg der inneren Erfahrung. Das ist der mystische Weg. Auf dieser Ebene kann das Religiöse wieder integriert werden ohne Widerspruch zur Wissenschaftlichkeit und zur Rationalität. Viele Wissenschaftler, wie Physiker und Chemiker, haben im letzten Jahrhundert bewiesen, daß sie große, wissenschaftliche Leistungen vollbrachten, obwohl sie zugleich spirituelle Menschen waren. Natürlich waren sie undogmatisch und hatten nicht das Bild eines Gottes mit einem weißen Bart, welcher im Himmel wohnt und befiehlt. Ihr Gottesbild war viel abstrakte. Unsere ganze westliche Kultur der vergangenen 300, 400 Jahre wurzelt in der "mentalen" Zeit - wie Gebser sie nennt, die nach der mythologischen Zeit kam. Sie kann nur dann abgelöst werden, wenn auf der religiösen Ebene eine Integration stattfindet. Im 17. Jahrhundert wurde Gott eigentlich als Orientierung aus der Kultur eliminiert, aus sehr verständlichen Gründen. Jetzt drängt sich Integration auf. Dann brauchen wir ebenfalls eine Integration des Weiblichen. Diese Unterdrückung weiblicher Eigenschaften geht zurück auf 2000 v. Chr. etwa, als die Weiblichen zu Männer-Mythologien umgeschrieben wurden. Die matrilinearen oder matrilokalen Kulturen gingen unter, das Patriarchat kam. Ich denke, dass jetzt die Zeit reif ist, daß Mann und Frau als gleichwertige Partner in der Gesellschaft zusammenarbeiten können. Das ist neu. Seit 150 Jahren bereitete es sich vor. Jetzt wird es kommen. Die Reintegration der spirituellen Dimension ist vorläufig eher schwach am Kommen. Das ist eigentlich das Hauptthema von „dynamik 5“ (ein von Gil Ducommun gegründetes Gesellschaftsprojekt).

Was ich jetzt ganz neu bei Ken Wilber gefunden habe, ist, daß in den letzten 50 bis 80 Jahren auch die Welt dekonstruiert wurde, im Sinne, daß die Hierarchien zerstört wurden, die Wertsysteme, nach denen man eigentlich Entwicklungen einstufen konnte in weniger gut und besser. Das geht dann soweit, daß man in diesem universellen Pluralismus auch zu einem totalen Relativismus gekommen ist, wo es keine gültigen Werte mehr gibt. Das bedeutete zum Beispiel im Bereich der Erziehung Summerhill, völlig freie Erziehung. Die Kinder waren ohne Führung. Es gab überhaupt keine Führungsstrukturen mehr.
Man erkennt Autorität, die vom Wissen und der Kompetenz kommt, kaum mehr an. Man hat enorme Mühe mit einer Art Hierarchie, die Wilber, wenn es natürliche Hierarchien sind, Holarchien nennt. Das ist eine zusätzliche Dimension. Bei HOLON (ein europäisches holistisches Netzwerk) sind jetzt genau die Menschen drin, die große Mühe haben mit dem Thema der Hierarchie, der Macht, der Autorität. Da ist Orientierungslosigkeit, weil Orientierung bedeuten würde, daß man gewisse Werte als orientierende Normen anerkennt. Diese erzeugen automatisch Strukturen, welche es ermöglichen, Religionen, Kulturen, Phänomene einzuordnen, höher oder tiefer. Die Idee, daß etwas tiefer oder höher ist, schockiert heute. Das schockiert hier an der SHL die Studenten. Bei Don Beck ist die Form des extremen Pluralismus und Relativismus ein Aspekt des "Grünen Mem“. Wir sind voll in einer Phase, wo der Relativismus soweit gegangen ist, daß man nichts mehr bewerten darf. Es ist zu weit gegangen. Das ist ein großer Irrtum. - Wir haben also drei Stränge. Den Strang des Weiblichen, das zu integrieren ist, den Strang der Religion, die der Reintegration bedarf und drittens braucht es eine Reintegration der Holarchien oder der natürlichen Schichtungen, d.h. Ebenen der Realität und der Wahrheit, die bei Gebser von der Materie zum Leben, dann zum Geist ( Intellekt), weiter zur Seele und dann zum Göttlichen führen. Die Reintegration der Holarchie ist notwendig. Sie gibt der Gesellschaft und den Menschen eine Orientierung. Da habe ich bei „dynamik 5“ auch Mühe.

Mir kommen zwei sinnstiftende Möglichkeiten in den Sinn: Die alte, die heute verbreitet ist, nämlich der Fundamentalismus, wo grobkörnig gesagt wird, was recht und schlecht ist, und wo eine Orientierung stattfinden kann, die aber sehr rasch auch zur Ausgrenzung führt und zu Hass. Und die andere Seite, die du betont hast, wäre der mystische Weg, wo wir uns nach der inneren Wahrheit ausrichten. Dazwischen sehe ich wenig. Der mystische Weg hat sicher etwas zu tun mit dieser liebevollen Revolution, die du angesprochen hast, die tiefgreifend wandeln kann. Ich möchte gerne noch wissen, wie es zu diesem tiefgreifenden Wandel von innen kommen kann. Wie kann er sich im alltägliche, gesellschaftliche Leben umsetzen?

Zuerst noch zum Fundamentalismus. Ich finde seine Ausbreitung eine ganz natürliche und logische Entwicklung. Wir sind in einer Zeit, wo es schwierig ist, sich zu orientieren. Der Mensch braucht aber Werte, an denen er sich orientieren kann. Es kommt zu einer Regression in das mythologische Zeitalter, in den Ethnozentrismus. In der Religion wird die ethnozentrisch - nationalistische Dimension als Fundamentalismus gelebt. Wir sehen das auch in Europa, z. B. in der Schweiz, das Aufkommen dieser Tendenzen. Da ist ein Bedürfnis nach Halt. Man orientiert sich an Werten, die aus dem Mittelalter kommen und uns Sicherheit geben.
Also: Ethnozentrismus, Nationalismus und Fundamentalismus im Religiösen: "Ich habe recht; wir haben recht; unser Volk hat recht, unsere Religion hat recht; unsere Kultur ist die richtige, die andern sind falsch".Der andere Weg, der mystische, macht im Moment fast allen Angst. Diejenigen, die politisch- rational eine gerechtere Welt möchten mit dem Ethos des mentalen Zeitalters der Menschenrechte haben Angst vor dieser Spiritualität, weil sie eine Regression befürchten. Sie verstehen den Unterschied nicht, und sie können es nicht spüren, daß Religion so gelebt werden kann wie im Mittelalter (das Dogmatische, Fundamentalistische) oder ganz neu eben in einem mystischen Sinn. Das verstehen die meisten Leute überhaupt nicht, und sie haben Angst davor. Sie haben Angst, daß der ganze Rechtsstaat, diese Trennung der Gewalten von Religion und Staat wieder zerfällt und in Frage gestellt wird. Ich kann diese Angst verstehen. Das heißt, es wird eine riesige Opposition gegen diese neue Spiritualität kommen, und sie ist schon da. Ich sehe auch, daß es keinen anderen Weg gibt. Zwischen Fundamentalismus und mystischem Weg sehe ich schon eindeutig diesen ethischen Weg der mentalen Zeit, der zur Abschaffung der Sklaverei geführt hat, zu den Menschenrechten, zum Schutz des Individuums, zum Rechtsstaat und zur Abschaffung der Willkür. Ich finde das ganz bemerkenswert. Das haben nicht die Religionen des Mittelalters hervorgebracht, sondern das mentale Zeitalter mit seinem rationalen Ethos. Dieser Weg war eine große Errungenschaft der Menschheit. Jetzt sehen wir seine Grenze und erkennen, dass es so nicht mehr weiter geht. Wir sind im Materialismus und im individualistischen Egoismus gefangen. Hier vielleicht noch eine Randbemerkung. Es gibt eine Strömung - Du kennst sie gut - von vielen Leuten, die in Bildungshäusern Kurse besuchen. In diesen wird dem Menschen wieder die Beziehung zum Körper und zu den Gefühlen geöffnet. Dieser Weg geht ein stückweit auf diese Trennung von Geist und Körper zurück und dem Wunsch, sie zu überwinden. Diese Spaltung existiert seit etwa 2000 Jahren. Sie lebt immer noch fort. Bei vielen Menschen sind Triebe, Körper, Gefühle und die mentale Ebene noch desintegriert. Jetzt ist eine Bewegung da, gekenntzeichnet durch einen Abstieg vom Mentalen in den Körper und in die Gefühle. Das ist ein notwendiger Abstieg, damit es zu einer Integration von Geist, Gefühl und Körper kommt. Er ist also in Ordnung, bedeutet aber eine Regression. Er führt in eine neue Ego-Zentrierung, weil nur jeder für sich die Körper- und die Gefühlsebene spüren kann. So redet jede und jeder immer nur „mein Körper sagt mir“ und „meine Gefühle sagen mir“. Es ist eine starke Regression in das Ego. Diese muß überwunden werden. Menschen, die wegen dem Wiederbeleben der Gefühle das Mentale teilweise ablehnen, sollten es voll integrieren und dann auf der Ebene der Seele weiterwachsen.

Damit kommen wir wirklich in die Mystik hinein. Dieser erste Schritt zurück in Körper und Gefühle mag notwendig sein, ist aber überhaupt nicht genügend und kann zu einem furchtbaren Individualismus führen, wo jeder nur noch an sich und seine Gefühle und sein Wohlbefinden denkt. Darin sind wir heutzutage gefangen und das tut weh. Also: Mystik bedeutet für mich sicher diese Regression, Integration und Klärung mit den Körper- und Gefühlsschichten. Dann das Transzendieren: den Geist/Verstand und die Ebene der Weltseele pflegen; dann die Transzendenz zum Göttlichen. Das wirkt sich so aus, dass das Ego zurückgestuft wird; man kommt in eine universelle Weltzentrik -, wo nicht nur die ganze Menschheit unsere Orientierung ist, sondern die ganze Welt, alle Lebewesen, die Biosphäre, die Litosphäre, die Steine, das Wasser; alles wird unser Haus. Also weg von der Egozentrierung, weg von der Soziozentrierung, die eben nationalistisch ist, weg von der Weltzentrierung, die nur die Menschheit einschließt, in eine universelle Zentrierung hinein. Jetzt reintegriert das Transzendente die ganze Welt. Die Welt wird zu einem Buch Gottes, wie das eigentlich in der Bibel schon steht. Und die Welt wird ein Ausdruck des Göttlichen, und dadurch wird sie wieder geheiligt, und nicht nur die Menschen und nicht nur alle Völker, sondern auch alle Lebewesen, auch der Boden und das Wasser. Sie sind nicht Gott, aber sie werden geheiligt, weil sie Ausdruck des Göttlichen sind. Daraus entsteht ein tiefer Respekt. Aus dieser tiefen Achtung für alles, was ist, entspringt die Notwendigkeit der Sorge. Ich sorge mich um unser Haus. Unser Haus ist diese Welt mit all ihren Komponenten, und ich sorge mich darum, weil das eine göttliche Welt ist. Dies wirkt dann in den Alltag hinein: in das Einkaufen, in die Feriengestaltung, in die Freizeitbeschäftigung , ins Konsumieren hinein. Die Frage lautet nun: Wie organisieren wir die Politik und die Wirtschaft, damit alle Menschen sich entfalten können? Wenn man in diese neue Zentrierung kommt, wird der Drang wach, Ordnungen und Strukturen so zu schaffen, daß sich alle Menschen nach ihrem inneren Potential entfalten können. Wenn man in diese neue Zentrierung kommt, wird der Drang wach, Ordnungen und Strukturen so zu schaffen, daß alle Wesen sich nach ihrem Potential entfalten: Daß eine Blume eine Blume wird und ein Fisch ein Fisch und ein Mensch ein Mensch. Das bedeutet, daß wir Ordnungen aufbauen, welche die Fische und die Blumen, die Bäume und die Menschen respektieren und ihnen soviel wie möglich Entfaltungspotential und Spielraum zugestehen. Das ist eine Ordnung, die der Natur gegenüber viel gerechter ist als heute, und vor allem gegenüber den Menschen. Wir erfahren heute eine unglaublich ungerechte Verteilung des Wohlstands und der Entwicklungsmöglichkeiten. Das geht soweit, daß 20 - 40 % der Menschheit sich gar nicht richtig entwickeln kann, weil das materielle und das politische Umfeld es schon gar nicht zulaßen. Ich spreche da nicht von Armut, sondern von Verelendungs- Unterdrückungsprozessen, die verheerend sind.

Also es geht eigentlich um die Erweiterung unserer Sicht und der Entfaltung unseres inneren Auges, damit wir die Welt der Seele erspüren können und damit zu einem achtsamen Umgang mit dem Geschaffenen finden. Es ist Dein Anliegen durch deine Projekte Umsetzungshilfe zu schaffen. Du hast schon einige Bewegungen ins Leben gerufen mit dem Ziel, der Vision einer holistischen Weltsicht durch Gemeinschaft näher zu kommen. - Welche Erneuerungsschritte möchtest Du mittels des Gesellschaftsprojektes „dynamik 5“ einleiten?

Wichtig ist einmal, daß wieder Orientierungen da sind. Die geben auch Zuversicht und Hoffnung. Schon das Formulieren von Visionen, die eine zukünftige Ordnung skizzieren, sind sehr wichtig, damit nicht Hoffnungslosigkeit entsteht. Wenn Menschen, die aus Mitgefühl am Zustand der Welt leiden und sich versammeln, um aus gemeinsamen Visionen Zuversicht zu schöpfen, baut sich die Hoffnung auf, aus der etwas anderes entstehen kann. Das ist für mich schon einmal ganz wichtig. Das bedeutet, sich hinzusetzen und versuchen wahrzunehmen, was in Zukunft sein könnte. Das ist ein visionärer Akt: den zukünftigen Zeitgeist sozusagen zu erfassen und ihn schriftlich hinzulegen. Das ist eine Eigenschaft, die mir gegeben ist, als Gabe wahrscheinlich. Ich befasse mich seit 40 Jahren mit der Weltproblematik In diesem Bereich habe ich eine bestimmte Aufgabe, wie andere Menschen andere Aufgaben haben. Bei der Beaulieu-Bewegung und bei HOLON ging es vor allem darum, Menschen zusammenzubringen, damit sie sich begegnen, aus der Isolation treten und den Mut bekommen zu sagen: „ Ah, das ist ja das, was ich auch denke!“ In diese Richtung müßte es gehen! "Tun wir uns zusammen, dann sind wir stärker!" Also, es geht darum einen Ort der Begegnung zu schaffen, wo man sich gegenseitig stützt, sich hilft und bereichert, weil es vielseitige Facetten sind, die in einer Gemeinschaft neu erdacht werden müssen. Das ist "Beaulieu", das ist HOLON: Orte, wo man sich auch weiterbilden kann, wo man Kurse anbietet und Anregungen gibt, um das Bewußtsein zu erweitern. So ist eigentlich der Bewußtseinserweiterungsprozess ein pädagogischer, didaktischer Prozeß, welcher Zeit braucht. In dem Sinne war Beaulieu, ist HOLON ein stückweit ein didaktisches, ein pädagogisches Projekt, um die Bewußtseinsentwicklung zu beschleunigen. Das ist der Auftrag.

Bei „dynamik5“ kommt ganz stark hinzu, daß diese ganze Beschäftigung mit der Bewußtseinsentwicklung nicht nur mit dem Ich ,sondern mit der Welt zu tun hat.: Der Weltbezug wird sehr stark, d. h., ich gehe diesen Weg nicht für mich, sondern ich gehe den Weg in die Welt und in die Gesellschaft, um ihre politische Ordnung so zu verändern, daß diese Ordnung liebevoller, entfaltender, lebensdienlicher wird, wie das der Wirtschaftsethiker von St. Gallen, Peter Ulrich sagt: eine lebensdienliche Ordnung. Jetzt bin ich aus der Egozentrik heraus getreten, in die universale Zentrierung, im Wissen, dass nicht nur alle Menschen und alle Völker, sondern auch alle Lebewesen, die Erde und das Wasser, einfach alles einbezogen ist. Dies ist mein Haus, und ich sorge mich darum. Bei „dynamik5“ ist das jetzt ganz klar: Es ist ein politischer Auftrag. Spiritualität oder das erweiterte Bewußtsein ist ein politischer Auftrag; nicht im parteipolitischen Sinne, sondern im Sinne - "ich kümmere mich um mein Haus." Aber dieses Haus ist nicht mehr meine Familie; es ist nicht nur mein Ich; es ist nicht mein Dorf; es ist nicht mein Land; es ist nicht mein Kontinent; es ist die ganze Welt. Ich kümmere mich jetzt darum und ich übernehme Verantwortung. Das ist bei HOLON schon angelegt und bei „dynamik5“ verstärkt. Am Anfang war "dynamik5" ein Parteiprojekt in der Idee, es brauche jetzt eine Partei, die nicht mehr im materialistischen Gedankengut des 19. und 20. Jahrhunderts gründet - oder in diesem pluralen Relativismus. Die religiöse Dimension müsse nun auf einer höheren Ebene, der mystischen Spiritualität, mit dem Rationalen, dem Verstand, vereinigt und von dieser Perspektive aus solle gehandelt werden. Das ist die Spezifizität von „dynamik5“. Wir haben jetzt gesehen, daß wir nach zwei Jahren zu wenig stark sind, um eine politische Partei zu gründen. Es interessiert uns nicht, irgendeine marginale Gruppe mit 200 bis 500 Mitgliedern zu sein. Das würde bedeuten, daß wir stur an einem Ziel festhalten, welches vor drei Jahren eine Hoffnung von mir war. Wir alle haben eingesehen, daß es nicht so schnell geht. Vielleicht hätte es noch 5 Jahre gebraucht, vielleicht gar 10 Jahre. „dynamik 5“ ist jetzt ein politisches Gesellschaftsprojekt geworden. Wenn die Zeit reif ist, wird „dynamik5“ einmal eine Partei werden. Aber jetzt ist das kein direktes Ziel mehr. Die Arbeit, die wir jetzt in den Ländern verfolgen, besteht darin, diese spirituell-politische Strömung zu stärken und Konzepte für die Gesellschaft zu entwickeln - also Ordnungskonzepte, z.B. in den Bereichen Bildung, Wirtschaft, Spiritualität. Wie könnten diese aussehen? Wir arbeiten in Konzeptgruppen in der Schweiz und neu auch in Deutschland daran und werden Konzepte, Visionen für die Zukunft entwerfen. Wenn einmal genügend Menschen davon angesprochen worden sind, dann wird von selbst der Wunsch kommen, dies politisch zu artikulieren. Es ist aber auch möglich, daß diese Konzepte in die anderen Parteien hinein diffundieren. Vielleicht wird „dynamik 5“ gar nie eine Partei werden, wird aber ihr Gedankengut in andere Parteien, in die NGO's, und Umweltorganisationen einfließen lassen. Das ist ein Szenario, eine Möglichkeit. Wir haben diesbezüglich nichts entschieden.

Wir haben die Absicht, diese Konzepte für die Bereiche Bildung, Spiritualität, Umwelt und Wirtschaft zu formulieren und sie in Aktionen umzuwandeln, welche der Öffentlichkeitsarbeit dienen. Wir wollen uns dann mit verwandten oder nahestehenden Gruppierungen, die auch an diesem Themen arbeiten, zusammenschliessen. Wenn ich jetzt z. B. das Thema „Geld und Zins“ nehme - wir arbeiten auch daran - werden wir vielleicht mit Strömungen zusammenarbeiten, die auch mit diesem Thema „Wirtschaft, Geld, Geldverzinsung, Machtakkumulation“ beschäftigt sind. Wir werden sie einladen, an solchen Aktionen mitzumachen. Wenn die Aktion im Bereich Gesundheit angesiedelt ist, - auch da möchten wir ein Konzept entwickeln - könnten wir mit Organisationen kooperieren, die sich für ganzheitliche Medizin einsetzen. Es ist unsere Idee, themenzentrierte Aktionen, die auf einem spirituell-politischen Inhalt beruhen, zusammen mit anderen Gruppierungen durchzuführen. Denn es geht darum, Konzepte zu verbreiten, Leute aufmerksam zu machen in der Hoffnung, daß diese den Bewußtseinsstrom erweitern, so daß er Gewicht bekommt in der Gesellschaft und mit der Zeit einen Einfluß auf die reell existierenden Strukturen, Gesetze und Normen bekommt. Diese können in die parlamentarische Gesetzarbeit einfließen oder sogar die Verfassungsebene beeinflussen. Das wird viel Zeit brauchen, aber darum geht es. Wir zielen darauf ab, gewisse Normen in der Verfassung zu ändern, welche im Widerspruch zu einer lebensdienlichen Gesellschaft stehen.

Wodurch kann sich Mitgefühl entwickeln, das wir brauchen, um weiterzukommen?

Mitgefühl und Liebe ist eigentlich da. Vor allem bei den Frauen sind sie wie mitgegeben. Sie können wohl zerstört werden: durch die Trennung von Körper und Geist, vor allem beim Mann, wenn er sich vollkommen einem mentalen Effizienzdenken unterordnen muß. Dann wird er losgerissen von seinen Gefühlen, die er eigentlich hat. Ich bin sicher, daß alle Manager, die z. B. Leute entlassen oder die im Bereich Umwelt Schäden mitverursachen darunter leiden. Weil sie aber wissen, daß das von ihrer Ethik her nicht gut ist, müssen sie sich von ihren Gefühlen dissoziieren. Zunehmend werden also die eigenen Gefühle (die Liebesgefühle, das Mitgefühl) dissoziiert, damit man sein eigenes Handeln überhaupt ertragen kann. Man muß sich dem Mitgefühl verschließen. Aber ich würde sagen, beim Kind entfalten sich diese Gefühle ganz natürlich, wenn es von den Eltern geliebt wird. Zuerst entwickelt es die Ich-Liebe, dann das Zugehörigkeitsgefühl zur Klein-Familie und dann zur Grossfamilie , also von der Egozentrik in die kleine Soziozentrik hinein. Die Aufgabe besteht darin, dieses Mitgefühl wachsen zu lassen: von der Familie zum Vaterland - um ein altes Wort zu gebrauchen - und dann zur ganzen Menschheit. Und da wird es schwierig. Aber was braucht es jetzt? Ich würde wiederum sagen, dass es den Weg in die Weltzentrik hinein benötigt. Das ist der Weg, der eigentlich mit den Menschenrechten erfolgte, wo das Mitgefühl auf alle Menschen in der Welt ausgedehnt wurde: Abschaffung der Sklaverei, individuelle Menschenrechte, Schutz des Individuums. Das ist Ausdruck von Mitgefühl und Liebe. Der nächste Schritt, um das Mitgefühl noch mehr zu erweitern, ist für mich die Reintegration des Spirituellen auf der Ebene der Spiritualität und der Mystik. Jetzt die praktische Ebene: Die Praxis besteht für den Mann oder für die Frau darin - ich habe ja von Dissoziation gesprochen- diese Trennung zwischen mentalem Bereich, Herzbereich und Gefühlen aufzuheben. Das ist ein Heilungsprozess, man kann ihn in Kursen üben. Da wird der mentale Bereich wieder stark mit den Gefühlsbereich in Berührung kommen, mit der Liebesfähigkeit und dem Körper. Der Körper symbolisiert ja auch die Erde. Mein Körper und der Boden und die Pflanzen sind all-eins. Wenn hier diese Dissoziation, dieser Graben, aufgeschüttet wird, dann entsteht wieder Mitgefühl, einmal mit sich selber, aber auch mit den Mitmenschen und mit der Mitwelt. Das ist ein ganz wichtiger Prozess, der aber eben nicht in der Egozentrierung bleiben darf. Mittel dazu - Du kennst das ja - sind sehr viele Techniken, wie Tanz oder Yoga. Es sollte nicht nur Hata-Yoga, Körperarbeit, sein, obwohl das sehr posistiv ist. Es ist günstig, wenn Atemübungen hinzukommen. Atmen ist - das wird ja auch in der Zen-Meditation empfohlen - ein Werkzeug der Zentrierung. Durch den Atem spürt man, daß es zwischen innen und aussen keine Grenzen gibt. Vielleicht ist es das Offensichtlichste beim Atmen: Was außen ist, ist innen, und was innen ist, ist außen. Und was ich ausatme, wirst du einatmen; und was du ausatmest, werde ich einatmen. Also: wir sind ganz intensiv verbunden. Durch Atemübungen wird uns bewußt, daß wir mit den Ganzen zusammen atmen. Wir atmen mit den Kaminen, mit den Autos zusammen. Was diese "ausatmen", atmen wir ein. Und ich würde sagen: Die Konzentration auf den Atem ist wahrscheinlich ein ganz wichtiger Weg, um das Mitgefühl enorm zu erweitern, zum Nachbarn und dann zur ganzen lebendigen Welt und zu allen Menschen. Die Aufhebung dieser Trennung von innen-außen, bedingt auch, daß ich als Wesen transparent werde, mich öffne. Das sind ganz wichtige Dimensionen. Vieles hab ich vor 20 Jahren bei Graf Karlfried Dürkheim gelesen in seinem Buch „Harra“. Das ist diese Zentrierung im Bauch, die man über das Atmen erreicht, ebenso in der Zen-Meditation. Es gibt aber ganz andere Techniken, die vielleicht weniger über den Atem führen, aber viel Körperarbeit beinhalten wie Tai Chi oder Kung Fu. Es gibt auch Vorgehen, welche die Zentrierungen auf Wörter oder Bilder ausrichten, wie etwa das Herzensgebet. Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Ich glaube, das war Deine Frage: Was könnte dieses Mitgefühl erweitern und seine Entwicklung beschleunigen? Ich glaube, es wächst nur - oder fast nur - durch eine Alltagspraxis. Mir ist nicht so wichtig, welche Praxis jemand hat. Aber mir ist ganz wichtig, daß sie/er eine Praxis auf verschiedenen Ebenen hat. Das ist vielleicht etwas, was vernachlässigt wird. Es genügt nicht, eine Praxis auf der Körperebene und eine Praxis auf der Gefühlsebene zu haben. Es braucht auch eine Praxis auf der mentalen Ebene. Ich habe mich auch intellektuell-mental zu schulen, nicht nur auf den anderen Ebenen. Und dann muß ich mich schulen auf der seelischen Ebene, also im Bereich der göttlichen, transzendenten Dimension. Im Alltag ist es wichtig, eine Praxis in allen Bereichen zu haben. Für mich persönlich bedeutet jetzt z. B. die Praxis auf der Gefühlsebene, daß ich dem Ursprung sofort nachgehe, wenn ein Konflikt oder eine Spannung entsteht. Ich suche, nach dem Ursprung in mir. Zwischenmenschliche Probleme spreche ich sofort an: „Schaut mal hin, wir haben eine Spannung, worin besteht die Ursache?“ Also, es wird nichts unter den Tisch gewischt. Das ist für viele Leute unangenehm, weil sie es als Zwang zur Ehrlichkeit empfinden. Wenn man das nicht will, löst es Aggressionen aus oder führt zu einem Vertuschen. Das ist für mich die Praxisebene der Gefühle, welche ich mit meiner Frau praktiziere. Ich würde sagen, dank dem sind wir noch zusammen, weil wir keine Probleme unter den Tisch wischen; auch keine sexuellen Probleme. Was es auch immer sei, es wird diskutiert. Es ist manchmal sehr hart, manchmal gibt es Schweigezeiten, aber das klärende Gespräch wird immer wieder aufgenommen. Und das mache ich mit allen Menschen, mit denen ich arbeite. Das ist die Praxis auf der pschychologisch-gefühlsmäßigen Ebene, die dann natürlich auch ins Mentale hineingeht. Auf der spirituellen Ebene: Es gibt die Möglichkeit des Rückzugs, der Klausur - 40 Tage in die Wüste. Ich glaube, das ist wichtig. Das habe ich in den letzten drei Jahren zu wenig gemacht. Ich hatte keine Zeit mehr dazu. Aber es gibt vom Hinduismus her gesehen auch das Karma-Yoga, das Yoga des Handelns. Ich war darin gefangen, vielleicht mehr als drei Jahre lang, habe zu wenig den Rückzug gepflegt. Es ist jetzt Zeit, mich wieder ein wenig aus dem Yoga des Handelns, des Tun's, zurückzuziehen, und wieder mehr die Einkehr zu suchen.. Es braucht eine Balance. Wenn ein Mensch nur in der Einkehr ist und dann nicht ins Handeln geht, dann bleibt er vielleicht in der Egozentrik gefangen, in der Selbsterlösung. Und das ist nicht das Ziel.

Ich bedanke mich für dieses schöne Gespräch.

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